Ex-premier kritisiert das System
Wen Jiabao meldet sich in einem zweideutigen Zeitungsbeitrag und entwirft die Vision eines idealen Landes.
Peking. Im China der Gegenwart wird längst kein Abweichen vom offiziellen Narrativ mehr geduldet. Niemand ist vor dem staatlichen Zensurapparat gefeit, nicht einmal ein ehemaliger Premier. Wen Jiabao war immerhin zwischen 2003 und 2013 der zweitmächtigste Politiker des Landes. Normalerweise melden sich „elder statesman“in China nicht in der Öffentlichkeit zu Wort. Doch der 78-jährige Wen publizierte am Freitag einen seltenen Essay.
Er erschien zunächst in der gedruckten Ausgabe einer obskuren Wochenzeitung aus der einst portugiesischen Kolonie Macau. Dessen Redaktion bezeugt laut Eigenaussage die Echtheit des Textes. Offenbar wollte sich kein Medium in Festlandchina der brenzligen Angelegenheit annehmen.
Der Grund dafür ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, denn Wen Jiabaos Artikel liest sich zunächst einmal wie ein Nachruf auf seine jüngst verstorbene Mutter. Doch wer zwischen den Zeilen liest, entdeckt nicht nur eine gehörige Portion Gesellschaftskritik, sondern für chinesisch Verhältnisse auch einen direkten Seitenhieb an das politische System unter Staatschef Xi Jinping.
So schreibt der einstige Premier Wen anekdotisch über die tragischen Erfahrungen seines Vaters während der Kulturrevolution (1966-76), der als Schullehrer regelmäßigen Verhören und körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Jene traumatische Dekade des gesellschaftlichen Chaos gilt nach wie vor als Tabu. Wen Jiabao geht noch weiter: Er schildert seine Vision eines idealen Chinas: „In meiner Vorstellung sollte China ein Land voll Fairness und Gerechtigkeit sein. Der Wille des Volkes sollte jederzeit respektiert werden.“Die unterschwellige Botschaft lautet natürlich: Das reale China ist weit davon entfernt.
Wen Jiabao war während seiner Amtszeit überaus populär, er inszenierte sich als Mann des Volkes. Doch seine Familie zählte zur absolut korrupten Parteielite. Laut einer Investigativrecherche der „New York Times“von 2012 soll sie ein Privatvermögen von umgerechnet 2,7 Milliarden Dollar angehäuft haben.