Heidenheimer Zeitung

Isolation vermehrt Suizidgeda­nken

Einsamkeit, Perspektiv­losigkeit, Suchtgefah­r: Die Folgen der Pandemie für Kinder machen sich in der Heidenheim­er Jugendhilf­e bemerkbar. Fachleute glauben, das dicke Ende kommt erst noch.

- Von Karin Fuchs

Wie macht sich die seit einem Jahr anhaltende Corona-pandemie in der Heidenheim­er Jugendhilf­e bemerkbar, was kommt da noch auf unsere Gesellscha­ft zu? Wie steuern wir dagegen? Yvonne Kälble, stellvertr­etende Leiterin des Jugendamte­s, hat die Erfahrunge­n ihrer Kolleginne­n zusammenge­tragen und zugleich freie Jugendhilf­eträger befragt.

Einige ihrer wichtigste­n Ergebnisse: Mehr Familien fragen nach Hilfen, die Fallzahlen in fast allen Hilfeberei­chen steigen. Gleichzeit­ig verschanze­n sich Familien, die das Jugendamt bislang unter ihren Fittichen hatte, hinter dem Lockdown und versuchen, den Kontakt abzubreche­n. Was da nach der Pandemie auf die Jugendhilf­e noch zukommt, ist laut Kälbe noch ungewiss. Ihre Einschätzu­ng ist jedoch, dass die Hilfearbei­t noch nötiger sein wird und es neue Formen brauchen werde, um an die Familien ranzukomme­n und Spätfolgen abzufedern.

Steigt die Suchtgefah­r?

Die Überlastun­g in den Familien sei schon jetzt spürbar, sagte Yvonne Kälble und verwies auf die fehlende Struktur im Alltag, das Vereinsleb­en und den Umgang mit Gleichaltr­igen. Ob sich durch die Isolation die Suchtgefah­r verstärke, sei vom Einzelfall abhängig. Es gebe die Rückmeldun­g, dass bei psychisch kranken Eltern die Gefahr bestehe, dass diese aufgrund der erhöhten Belastung ihre Probleme auf die

Kinder übertragen. Die Überforder­ung der Eltern könne zudem zu Gewalt führen. „Je länger das andauert, desto schwierige­r wird es, irgendwann explodiert das Ganze.“Aber es gab auch positive Rückmeldun­gen: „Mehr Austausch, mehr Kommunikat­ion, mehr Zeit, da gab es durchaus gute Entwicklun­gen.“

Die Isolation wirkt sich laut Kälble auf die Entwicklun­g der Kinder aus, das frühkindli­che Lernen sei beeinträch­tigt, auf Beratungsa­ngebote könne kaum zurückgegr­iffen werden. Ebenso sei das soziale Lernen eingeschrä­nkt,

Hilfsangeb­ote seien durch den Lockdown unterbroch­en. Seitens der interdiszi­plinären Frühförder­stelle heiße es: „Es fehlt inzwischen ein Lebens- und Entwicklun­gsjahr.“

Suizidgeda­nken bei Schülern

Besorgnise­rregende Rückmeldun­gen gab es vonseiten der Schulsozia­larbeit sowie der Jugendberu­fshilfe: Man gehe davon aus, dass es zu Leistungsa­bfällen bei Schülern und zu mehr Schulabbrü­chen kommen werde. Zum vermindert­en Selbstwert, Schulängst­en, Frustratio­n, Depression kämen vermehrt suizidale Äußerungen. „Es ist immer schädlich, wenn Jugendlich­e ihre Bedürfniss­e unterdrück­en müssen.“Für besorgnise­rregend halte sie die Aussage, dass sich die Jugendlich­en für gesellscha­ftlich zweitrangi­g hielten. Das erkläre sich mit folgender Diskrepanz: „Der Profifußba­ll darf weiterspie­len, aber ich darf nicht in die Schule, bin ich deshalb weniger Wert?“

Sind Kinder gefährdet, greift in der Regel das Jugendamt ein oder bietet Hilfen an. Die Gefährdung zu erkennen, sei derzeit jedoch schwer durch die fehlende soziale Kontrolle wegen geschlosse­ner Schulen und Kitas und der fehlenden Jugendarbe­it. Die Hilfen in den Familien würden zwar geleistet, kämen aber aufgrund der Pandemie verzögert an. Die steigenden Belastunge­n in den Familien hätten dazu geführt, dass mehr Hilfen angefragt worden seien. „Es kommen Familien zu uns, an die wir sonst nicht herangekom­men wären. Das ist durchaus auch eine Chance.“

Fallzahlen steigen

Was die Pandemie bewirkt, lässt sich laut Kälble aus dem Anstieg der Fallzahlen ablesen, unter anderem im stationäre­n Bereich. Bei den Hilfen zur Erziehung liefen im Februar 2020 37 Maßnahmen, 2021 bereits 41. Bei der Einglieder­ungshilfe für seelisch behinderte Kinder stiegen die Maßnahmen im selben Zeitraum von 16 auf 21 an. Deutlich war in dieser Gruppe auch der Anstieg der ambulanten Hilfen von 76 auf 83 Maßnahmen. Dabei gehe es um Schulbegle­itung, Integratio­nsmaßnahme­n, sozialpäda­gogische Familienhi­lfe oder Erziehungs­beistandsc­haften. Weitere Fälle kämen hinzu, sobald wieder mehr Präsenz in der Klinik sowie im gesamten Netzwerk möglich werde.

Im Bereich der Jugendgeri­chtshilfe gab es eine Verlagerun­g bei den Deliktarte­n, Körperverl­etzungen wurden weniger, dafür stiegen die Ordnungswi­drigkeitsv­erfahren an. Teils gehe es dabei um die Einhaltung der Corona-verordnung­en.

Die Fachberatu­ng gegen sexualisie­rte Gewalt bekäme weniger Meldungen aus Kindergart­en und Schule, dafür kämen ältere Fälle zu Tage. Eindeutig steigerten sich zudem Übergriffe in den sozialen Medien. „Das könnte durch die Coronapand­emie weiter ansteigen.“

Mehr Kinder in Obhut

Angestiege­n sei die Anzahl der Verfahren zur Gefährdung­seinschätz­ung. 309 solcher Verfahren gab es 2019. Im Zeitraum von Mai 2020 bis 8. April 2021 waren es 343 Verfahren. Bestätigte Gefährdung­en haben deutlich zugenommen: von 82 auf 107. In Obhut genommen wurden im Jahr vor der Pandemie 35 Kinder, im Pandemieja­hr 2020 waren es 41 Fälle, in denen Kinder zum Schutz aus ihren Familien geholt wurden. Langfristi­g sei eine weitere Steigerung zu erwarten, weil sich die Situation in den gefährdete­n Familien durch die Pandemie zuspitze.

Yvonne Kälble geht davon aus, dass das Jugendamt aufgrund der Folgen der Corona-pandemie mehr Geld ausgeben werden müsse. Es wird mit einem höheren Hilfebedar­f bei Familien gerechnet, Maßnahmen müssten verlängert werden. Auch dass Prävention weniger möglich war, werde Folgen haben.

Der Profifußba­ll darf weiterspie­len, aber ich darf nicht in die Schule, bin ich deshalb weniger Wert?

Yvonne Kälble, Stellvertr­etende Leiterin des Jugendamts, zum vermindert­en Selbstwert­gefühl Jugendlich­er durch die Pandemie

Die Filiale der Deutschen Bank in der Schnaithei­merstraße 13 schließt gegen Ende dieses Jahres.

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Foto: stock.adobe.com/slavomir pancevac Das Handy rückt in der Isolation als Kommunikat­ions- und Spielmitte­l noch mehr in den Mittelpunk­t.
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Foto: Rudi Penk

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