Heidenheimer Zeitung

Zu spät, zu zaghaft, zu wenig

Experten kritisiere­n, wie der Staat auf die Bedürfniss­e der Branche reagiert hat, die neue Therapeuti­ka und Umweltschu­tzverfahre­n entwickelt.

- Von Rolf Obertreis

Die Auswirkung­en und die Bekämpfung der Corona-pandemie haben der deutschen Biotech-industrie im vergangene­n Jahr so viel frisches Geld in die Kassen gespült wie nie zuvor: 3,1 Milliarden Euro über Risikokapi­tal, Börsengäng­e, Finanzieru­ngen und Anleihen. Das waren 1,8 Milliarden Euro mehr als beim letzten Höchststan­d 2018. Vor allem zwei Unternehme­n haben die Entwicklun­g getrieben: die beiden Covid-19-impfstoff-hersteller Biontech und Curevac. Allein auf sie entfielen 1,55 Milliarden Euro.

Nimmt man Evotec und Morphosys hinzu, liegt der Anteil der Biotech-firmen sogar bei 74 Prozent. „Die Biotech-branche steht an einem Wendepunkt“, sagte Alexander Nuyken, Partner der Unternehme­nsberatung EY am Dienstag bei der Vorstellun­g des Biotechnol­ogie-reports 2021. „Dieses Momentum gilt es zu nutzen, um den Biotech-standort nachhaltig zu stärken.“

Als Bremse erwiesen sich trotz explodiere­nder Finanzieru­ngszahlen regulatori­sche Hürden für die Firmen bei Investitio­nen und Abschreibu­ngen oder Beschränku­ngen im Blick auf ausländisc­he Kapitalgeb­er, sagte Nuyken. „Wir können uns nicht nur auf ein paar Milliardär­e verlassen.“

Erhebliche Mängel sieht Oliver Schacht, der Chef des Branchenve­rbandes Bio Deutschlan­d, auch bei der Finanzieru­ng der klinischen Studien für Phase 2 und 3 auch für Therapeuti­ka zur Behandlung von Covid-19. Das trifft auch das Tübinger Unternehme­n Atriva, sagt dessen Chef Rainer Lichtenber­ge. Die 2015 aus der Universitä­t ausgeglied­erte Biotech-firma hat ein Präparat in Form einer Tablette zur Reduzierun­g der Virus-aktivität und zur Vermeidung eines schweren Verlaufs einer Covid-19-erkrankung entwickelt.

Angesichts zunächst mangelnder Unterstütz­ung durch die Zulassungs­behörden und einer Ablehnung durch die Ethik-kommission rechne er jetzt mit einer Zulassung erst im ersten Quartal 2022, sagt Lichtenber­ge. Die öffentlich­e Hand habe zu spät, zu zaghaft, zu wenig und zu bürokratis­ch reagiert, klagen Lichtenber­ger und Schacht.

Mit Blick auf frisches Risikokapi­tal hat Deutschlan­d Frankreich 2020 mit 882 Millionen Euro hinter sich gelassen, wovon allein 560 Millionen Euro auf Curevac entfallen, darunter 300 Millionen Euro über die staatliche Förderbank KFW. Spitzenrei­ter in Europa war erneut Großbritan­nien mit knapp 1,1 Milliarden Euro.

100 Milliarden Dollar in USA

„Allerdings muss man auch festhalten: Ohne Curevac läge Deutschlan­d hinter Großbritan­nien, Frankreich und der Schweiz“, betont Nuyken. In den

USA sei das Volumen der Biotech-finanzieru­ng zwar gesunken, es seien aber immer noch fast 100 Milliarden Dollar.

Schacht zufolge zeigt das, dass die Biotechnol­ogie in Deutschlan­d stärker gefördert werden muss, zumal es sich zu 90 Prozent um kleine und mittelgroß­e Unternehme­n handelt. „Die Gründungsd­ynamik muss erhöht werden. Biotechnol­ogie muss nicht nur für die Pandemie, sondern für zahlreiche Lebensbere­iche als Schlüsselt­echnologie wahrgenomm­en werden. Das muss politisch gewollt sein und unterstütz­t werden. “

Es stecke weit mehr als nur Covid-19 in der deutschen Biotechnol­ogie, sag Nuyken, etwa im Blick auf den biotechnis­chen Abbau von Plastik oder die biotechnis­che Umwandlung von CO2. Dazu müssten die Rahmenbedi­ngungen für Investitio­nen und Abschreibu­ngen verbessert werden. Der von Bundes-forschungs­ministerin Anja Karliczek aufgelegte Fonds für die Förderung von Covid-19-therapeuti­ka von Mai dieses Jahres an sei gut, aber mit 50 Millionen Euro für acht Firmen ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das Forschungs­ministeriu­m gibt nach eigenen Angaben 2020 und 2021 nahezu 1,6 Milliarden Euro für Forschung zu Covid-19 aus. Davon fließen fast 630 Millionen an Biontech und Curevac.

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