Vom Keller ins Rampenlicht
Die Lebenserinnerungen der Schauspielerin Jutta Kammann beginnen in einem Heidenheimer Wohnhaus. Von dort hat sie es ins Schaufenster des deutschsprachigen Buchmarkts geschafft.
August 2011: Die Schauspielerin Jutta Kammann steht vor einem Haus an der Ernst-degeler-straße. In den letzten Kriegsjahren waren ihre Mutter Rose und ihre Schwester Gisela dort auf der Flucht vor den Düsseldorf treffenden Bomben alliierter Flugzeuge wie etliche andere Familien einquartiert worden. Sie selber sollte in Heidenheim die ersten fünf Lebensjahre verbringen.
Erwartet wird sie jetzt, sechs Jahrzehnte später, von ihrer „Ziehschwester“Ursel, Tochter der damaligen Hauseigentümer. Es ist also eine Art Familienzusammenführung, die sich an diesem sonnigen Sommertag 2011 abspielt.
Vieles hat sich seither ereignet. Kammann ist es längst gewohnt, vor der Kamera und im Scheinwerferlicht zu stehen. Und doch misst sie den damals düsteren, von drangvoller Enge geprägten Räumen offenbar eine derart große Bedeutung bei, dass sie damit ihre Lebenserinnerungen beginnt: „Ich bin ein Kellerkind“.
Es bedarf nicht der kompletten 224 Seiten, um zu verstehen, weshalb sie diesen Einstieg wählt: Der Keller steht für ein Leben, das nicht nur den polierten Verläufen konstruierter Tv-serien folgt, sondern Probleme und Schicksalsschläge einschließt.
Zugleich ist er Sinnbild für die Entschlossenheit, nicht zusammengeduckt vor den Stolpersteinen des Alltags zu verharren – sei es die Perspektivlosigkeit des kriegsbedingt behelfsmäßig eingerichteten Untergeschosses eines Wohnhauses in der schwäbischen Provinz, die an den roten Haaren herbeigezogene Hänselei aus einem Kindermund oder der Verlust eines geliebten Menschen.
In einem dunklen Keller nimmt also alles seinen Anfang. Es folgt ein Dauerkonflikt zwischen der Hoffnung auf mütterliche Liebe, Anerkennung und Verlässlichkeit auf der einen, Spott, Verletzlichkeit und Gewalt auf der anderen Seite.
Wieder ein Mädchen
Die Enttäuschung der Mutter, statt des erhofften Sohnes erneut ein Mädchen zur Welt gebracht zu haben, führt bei der jungen Jutta zu Schuldgefühlen: „Ich war sicher, dass ich allein schon durch mein Dasein das Lebensglück meiner Mutter zerstört hatte.“
Kindliche Unbeschwertheit hat es schwer, wenn die Mutter ihre unberechenbaren Stimmungsschwankungen nicht in den Griff bekommt und mit der Hand ausholt, sollte ihren Wünschen nicht entsprochen werden.
Irgendwann kehrt ein völlig fremder Mann mit feuerrotem Vollbart aus dem Krieg zurück, ein „Eindringling, den ich Vati nennen musste“. Der Reflex, diesen Satz als humorig zu bewerten, erstirbt angesichts der Beschreibung, wie der militärisch geprägte Vater seinen pädagogischen Auftrag darin sieht, dem daumenlutschenden Mädchen aus erzieherischen Gründen ins Gesicht zu schlagen.
Dass die Eltern sich trennen, bedeutet kein Ende der verfahrenen Situation. Aus Platzgründen muss Jutta sich ein Bett mit der Mutter teilen, aber statt körperlicher Nähe erfährt sie emotionale Ferne. Bisweilen darf sie das Haus nicht verlassen, damit die Nachbarn nichts von ihren Blessuren zu sehen bekommen.
Und doch verliert Jutta nicht die Fähigkeit, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. An einem kleinen Hund aus Seife etwa, der als Weihnachtsgeschenk genügen muss, weil kein Geld für andere Präsente da ist, der sich aber von einer großen Enttäuschung zum liebsten Spielgefährten entwickelt. Und an der Rolle der Maria im Krippenspiel des Heidenheimer Kindergartens, die bei ihr die Erkenntnis reifen lässt: „Ich werde Schauspielerin.“
Aber schon folgt der nächste Tiefschlag: Jutta erlebt einen Suizidversuch ihrer Mutter mit. Sie rettet ihr das Leben, weil sie rechtzeitig Hilfe holt.
Mutter dominiert das Verhältnis
Das von Dominanz geprägte Verhältnis bleibt auch danach bestehen. Es gipfelt in Hochzeitsannoncen, die Rose für ihre 18-jährige Tochter aufgibt. Verbunden sind sie mit der Aussicht, in das Bekleidungsgeschäft der Mutter einzuheiraten.
Erniedrigender können Reaktionen nicht sein: „Männer, die sich auf die Anzeige hin meldeten“, schreibt Kammann, „machten schon beim ersten und einzigen Rendezvous deutlich, dass sie mich, das unerfahrene, pickelige, magere Mädchen als notgedrungene Knochenbeilage betrachten würden.“
Jutta Kammann ergeht sich in der Rückschau nicht in Verbitterung, tritt nicht nach, obwohl der Überschrift des ersten Kapitels – „Die Kindheit, die keine war“– eine einzige Anklage folgen könnte. Aller Trauer und Nachdenklichkeit, einer scheinbar endlosen Odyssee durch Kinderheime und Pflegefamilien zum Trotz, spricht sie vielmehr auch von warmen Gefühlen aus glücklichen Kindertagen.
Verwunden ist heute sogar der verletzende Vermerk im Testament der Mutter, die sich im vierten Anlauf das Leben nimmt, sie habe keine Angehörigen: „An guten Tagen kann ich ihr inzwischen meine schwere Kindheit verzeihen“, sagt Kammann.
Makel wird zum Vorteil
Es liegt darin jene Bestimmtheit, mit der sie sich schon früh dem Spott wegen ihres roten Schopfes entgegenstellt und den vermeintlichen Makel in einen dauerhaften Vorteil ummünzt: „Während andere Frauen mit dunklen Haaren schon in den Dreißigern färben müssen, genieße ich heute immer noch den Vorteil der roten Pigmentierung.“
Mit dem gleichen Nachdruck löst Kammann sich von ihrer Mutter, verdient als Mannequin ihr eigenes Geld, schafft die Aufnahme an die Bochumer Schauspielschule,
steht auf vielen großen Bühnen, spielt in „Derrick“und „Siska“, wird zu einem vielgebuchten Werbegesicht.
Größte Popularität verschafft ihr freilich die Rolle der Ingrid Rischke in der Mdr-serie „In aller Freundschaft“. Das Angebot dafür erreicht sie nach dem Tod ihres deutlich älteren Lebensgefährten, des Regisseurs Wilhelm Semmelroth. Ihn pflegt Kammann bis zum Ende der gemeinsamen drei Jahrzehnte, denen eine lange Zeit der Trauer folgt.
Aber wieder ist sie entschlossen, den Keller zu verlassen. „Aufgeben gibt’s nicht“, schreibt Jutta Kammann. Und deshalb macht sie weiter: eineinhalb Jahrzehnte als Oberschwester im Fernsehen, anschließend– im realen Leben – als Botschafterin der Langau, einer Erholungsstätte für Menschen in schwierigen Lebenssituationen.
Während Frauen mit dunklen Haaren in den Dreißigern färben müssen, genieße ich den Vorteil der roten Pigmentierung.