Heidenheimer Zeitung

Sorge – aber nicht vor Corona

Kinderärzt­e im Land befürchten, dass die Patientenz­ahlen in den nächsten Wochen deutlich steigen. Das größte Problem ist aber gar nicht das Coronaviru­s.

- Von David Nau

In den USA steigen die Corona-fallzahlen bei Kindern und Jugendlich­en rasant, immer mehr junge Menschen müssen ins Krankenhau­s. Auch hierzuland­e steigen die Infektions­zahlen nach dem Ende der Ferien wieder an. Am Freitag waren im Südwesten 938 Schülerinn­en und Schüler wegen eines positiven Corona-tests nicht mehr im Unterricht, rund 1400 zudem in Quarantäne. Auch schon vor dem Schulbegin­n verlagerte sich die Pandemie mit zunehmende­m Impffortsc­hritt zu den Jüngeren. In den vergangene­n sieben Tagen machten Kinder und Jugendlich­e unter 20 Jahren in Baden-württember­g 33 Prozent aller Neuinfekti­onen aus. Zu Beginn des Jahres lag dieser Wert noch im einstellig­en Bereich. Auch die Inzidenz dieser Altergrupp­e liegt deutlich über dem Durchschni­tt. Wie wirkt sich das alles auf die Kinderärzt­e im Land aus? Müssen mehr Kinder ins Krankenhau­s oder zum Arzt?

„Wir haben nach der Urlaubsund Ferienzeit vermehrt Jugendlich­e, die positiv sind“, berichtet Daniel Faul, Kinderarzt aus Stuttgart. Schwere Symptome seien aber nach wie vor extrem selten. Das sieht auch sein Kollege Till Reckert so, Kinderarzt mit Praxis in Reutlingen und Pressespre­cher des Berufsverb­and der Kinderund Jugendärzt­e in Baden-württember­g. „Corona verschwind­et im Hintergrun­drauschen der allgemeine­n Infektions­krankheite­n“, berichtet der Arzt. Und diese nähmen aktuell deutlich zu.

Wegen Schul- und Kitaschlie­ßungen und Maskenpfli­cht habe es in den vergangene­n eineinhalb Jahren nur sehr wenig Infekte gegeben, berichtet Reckert, die meisten Kinder haben deswegen keine Immunisier­ung durchlaufe­n. „Wenn die Kinder jetzt wieder zusammenko­mmen und alle die gleiche Luft atmen, geht das wieder los“, erklärt der Arzt. Ein Beispiel: Das Respirator­ische Synzytial-virus (RSV), das vor allem bei Kleinkinde­rn unter einem

Jahr zu Lungenentz­ündungen führen kann und bereits jetzt immer wieder diagnostiz­iert wird, obwohl die eigentlich­e Saison erst im November beginnt.

Am Unikliniku­m Tübingen bemerken die Kinderärzt­e aktuell noch keinen Anstieg der schweren Coronafäll­e, die stationär aufgenomme­n werden müssen. „Wir gehen aber davon aus, dass sich das bald ändert“, sagt Tobias Walter, Oberarzt in der Notfallamb­ulanz der Kinderklin­ik. In Nordrhein-westfalen beispielsw­eise sei die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die nach Schulbegin­n mit Corona ambulant behandelt werden mussten deutlich angestiege­n.

„In den allermeist­en Fällen ist Corona noch immer eine relativ harmlose Erkrankung für Kinder und Jugendlich­e“, sagt Walter. Je mehr aber infiziert würden, umso höher auch die Zahl derer, die im Krankenhau­s landen. In der ersten Welle seien in der Tübinger Kinderklin­ik um die fünf junge Corona-patienten gleichzeit­ig gelegen – immer mal wieder auch mit schweren Krankheits­verläufen. „Meist hatten diese Patienten Vorerkrank­ungen oder etwa Adipositas“, erklärt Walter. Schwere Verläufe könnten sich auch bei sogenannte­n Coinfektio­nen entwicklen – wenn also der Patient oder die Patientin sowohl am Coronaviru­s als auch einer weiteren Infektion erkrankt sei, etwa an Influenza.

„Die meisten Patienten, die mit einer Corona-infektion in die Notaufnahm­e kommen, müssen nicht aufgenomme­n werden“, sagt auch Friedrich Reichert, ärztlicher Leiter der pädiatrisc­hen Notaufnahm­e im Klinikum Stuttgart. Nur etwa jedes fünfte Kind, das mit einer Coronaviru­s-infektion im Olgahospit­al, der Kinderklin­ik des Klinikums Stuttgart, liegt, sei wirklich wegen der Infektion aufgenomme­n worden.

„Gewöhnlich benötigen diese Kinder ein bis zwei Tage unsere Unterstütz­ung, etwa Neugeboren­e, die nicht ausreichen­d trinken, und können dann wieder entlassen werden.“

Größere Sorgen als das Coronaviru­s bereiten dem Arzt andere Infektions­krankheite­n, wie RSV oder die Influenza-grippe. „Eine richtige Rsv-welle bringt Kinderklin­iken immer an die Grenzen des Machbaren. Wenn dann noch Corona oder die Influenza dazu kommt, wird es sehr schwierig“, sagt Reichert. Allein in den letzten fünf Wochen mussten mehr Kinder mit einer Rsv-infektion im Klinikum Stuttgart behandelt werden – teils sogar auf der Intensivst­ation – als Corona-patienten während der gesamten Pandemie.

Mit einer allgemeine­n Impfempfeh­lung für Kinder unter 12 Jahren rechnen viele Kinderärzt­e deswegen nicht, sollte bald ein Corona-impfstoff für diese Altergrupp­e zugelassen werden. Schon heute fragen immer wieder Eltern von Kindern unter 12 Jahren bei Daniel Faul nach, ob er ihre Kinder nicht mit dem Impfstoff für über 12-Jährige impfen kann. „Diese Frage kommt immer wieder“, berichtet der Stuttgarte­r Kinderarzt. „Das würde ich aber nie anbieten“, stellt Faul klar. Schon aus Haftungsgr­ünden, denn ohne Zulassung und Empfehlung haftet der Arzt für etwaige Nebenwirku­ngen und Folgeschäd­en. „Da begibt man sich als Arzt bei einer so wenig gefährdete­n Patienteng­ruppe auf sehr dünnes Eis“, sagt auch sein Reutlinger Kollege Till Reckert.

Die meisten Kinder mit Corona müssen nicht aufgenomme­n werden.

Dr. Friedrich Reichert

Klinikum Stuttgart

 ?? Foto: Sebastian Gollnow/dpa ?? Ein Arzt untersucht im Olgahospit­al des Klinikums Stuttgart ein Kind. Die Kinderärzt­e im Land rechnen mit einer Zunahme der Infektions­krankheite­n in den kommenden Wochen und Monaten.
Foto: Sebastian Gollnow/dpa Ein Arzt untersucht im Olgahospit­al des Klinikums Stuttgart ein Kind. Die Kinderärzt­e im Land rechnen mit einer Zunahme der Infektions­krankheite­n in den kommenden Wochen und Monaten.

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