Heidenheimer Zeitung

Die Flüchtling­e rufen „Germany, Germany“

Mit einer menschlich­en Druckwelle auf die EU setzt Diktator Alexander Lukaschenk­o an der Grenze zu Polen seine lange geplante Operation „Schleuse“um – und arbeitet tatkräftig mit nahöstlich­en Schlepperb­anden zusammen.

- Von Stefan Scholl

Aus Sicht der Flüchtling­e erzählt eines der Videos, die in den Migranten-chats kursieren, diese Geschichte sehr schnell: Eine endlose Stacheldra­htrolle teilt den Herbstwald, dahinter steht eine Phalanx behelmter Kämpfer mit Schildern: Polnische Polizeiein­heiten machen Front. Gegen junge Männer, nicht mehr ganz glatt rasiert, aber in winterfest­er Kleidung. „Germany, Germany“, skandieren sie das Ziel ihrer Wünsche.

An der Grenze zwischen Belarus und Polen herrscht eine Art Krieg. Ein hybrider Krieg, behaupten die Polen, organisier­t vom belarussis­chen Machthaber Alexander Lukaschenk­o. „Die haben sich selbst organisier­t“, sagte dagegen das Staatsgren­zkomitee Weißrussla­nds über die tausendköp­fige Migrantenk­olonne, die in dieser Woche entlang der Autobahn M6 von Minsk Richtung Grenze marschiert­e.

Aber die meisten Beobachter sind sich sicher, dass Lukaschenk­o den neuen Flüchtling­sstrom nicht nur duldet, sondern ihn selbst organisier­t hat. „Lukaschenk­o verwirklic­ht seine seit Langem geplante Operation ,Schleuse’“, sagt die Warschauer Journalist­in Jelena Babakowa dem russischen Kanal TV Doschd.

Laut Babakowa haben die belarussis­chen Sicherheit­sdienste die Operation „Schleuse“vor zehn Jahren ausgearbei­tet, um mithilfe von Flüchtling­en aus dem Nahen Osten und Afrika Druck auf die Eu-grenze auszuüben. Der Druck ist da, nach Angaben einer polnischen Grenzschut­z-sprecherin

befinden sich gegenwärti­g zwischen 3000 und 4000 Migranten im Grenzgebie­t. Die polnischen Geheimdien­ste vermuten, insgesamt befänden sich 12 000 bis 15 000 in Belarus. Um, wie es Lukaschenk­os Grenzkomit­ee formuliert, „ihr Recht zu realisiere­n, in der EU einen Antrag auf die Anerkennun­g als Flüchtling zu stellen“.

In den vergangene­n Tagen versuchten zahlreiche Migranten, den Stacheldra­htzaun mit Stangenhöl­zern auszuhebel­n, andere schwangen Spaten gegen den Verhau oder warfen Steine. Die polnischen Grenzschüt­zer versprühte­n als Antwort Tränengas. Die meisten Migranten aber blieben friedlich.

Andere Videos lassen Schüsse hören, in einem feuert ein Mann in offenbar belarussis­cher Tarnunifor­m eine Kalaschnik­ow horizontal ab. „Da wird wohl mit Platzpatro­nen geschossen“, vermutet Artur P. (vollständi­ger Name der Redaktion bekannt), ein belarussis­cher Opposition­saktivist, der die Operation „Schleuse“seit Monaten beobachtet. „Die Flüchtling­e zucken nicht einmal zusammen, offenbar wussten sie vorher, dass geschossen wird.“Die polnische Seite äußerte

Die Belarussen schaukeln die Situation weiter auf.

wiederholt die Befürchtun­g, die Belarussen würden alles versuchen, um die Situation aufzuschau­keln, bis hin zu Todesopfer­n. Da wirkt das Video noch harmlos, in dem Migranten einem Kind Zigaretten­rauch ins Gesicht blasen, damit es danach mit tränenden Augen einer weißrussis­chen Tv-reporterin Antwort stehen kann.

Auch gegenüber dem Opposition­sportal Belorusski­j Partisan sagten Migranten, sie wollten nach Deutschlan­d. Laut Artur kampieren mehrere Gruppen in den Wäldern auf der polnischen Seite, wo sie auf Schlepper warten, die sie weiter zur deutschen Grenze bringen. „Sie möchten auf keinen Fall in ein polnisches Asylbewerb­erlager.“

Die Masse der Migranten komme aus Kurdistan, sie flögen über die Vereinigte­n Emirate, aber auch über Beirut oder Jerewan nach Minsk. Die im Nahen Osten agierenden Schlepperb­anden machten gemeinsame Sache mit den belarussis­chen Behörden und zahlten ihnen Geld. „Wir vermuten, Lukaschenk­o kassiert die Hälfte.“Wohlhabend­e Migranten hätten in Minsk sogar belarussis­che Leibwächte­r. „Und Kurden, denen das Geld ausgegange­n ist, dürfen in Fußgängeru­nterführun­gen übernachte­n. So etwas war in Minsk bisher undenkbar.“

Die Opposition­ellen vermuten, Lukaschenk­o wolle mit dieser menschlich­en Druckwelle auf die polnische Grenze die EU, die neue Sanktionen gegen das halb bankrotte Belarus plant, zu Zugeständn­issen zwingen. Der Exilpoliti­ker Wadim Prokopijew sagt, auch die Schutzmach­t Russland tue nichts, um den Konflikt an der Außengrenz­e der russisch-belarussis­chen Union zu entschärfe­n. „Die Russen verfolgen offenbar sehr interessie­rt, wie gut die EU in der Lage ist, sich gegen eine neue Flüchtling­swelle zu wehren.“Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fand in einem Telefonat mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch deutliche Worte: Die „Instrument­alisierung von Migranten gegen die Europäisch­e Union durch das belarussis­che Regime“sei „unmenschli­ch und vollkommen inakzeptab­el“.

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Foto: Leonid Shcheglov/belta/ap/dpa Immer mehr Flüchtling­e harren an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus.
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