Überlebensgroßer Mythos
Eine Dokumentation auf Amazon Prime gewährt einen Blick hinter die Kulissen des Rekordmeisters. Dessen Fans werden die Serie lieben, alle anderen zumindest gut unterhalten.
April 1999: Bayern München liegt bei Borussia Dortmund zurück. Und dem Bayern-torwart brennen die Sicherungen durch. Zunächst springt Oliver Kahn Bvb-torjäger Stéphane Chapuisat mit ausgetrecktem Bein und im Stile eines Kung-fu-kämpfers entgegen, wenig später knabbert er am Ohr von Dortmunds Stürmer Heiko Herrlich. Es sind Bilder, die sich ins Gedächtnis vieler Fußball-fans eingebrannt haben. Und die einen scheinbar vom Ehrgeiz zerfressenen Profisportler zeigen, der für den Erfolg so ziemlich alles in Kauf genommen hat und zum Lachen den Keller aufsuchte.
21 Jahre später, wir befinden uns im April 2021, sitzt der einstige Weltklasse-keeper vor der Linse von Kameramann Nepomuk Fischer und lässt sich für die Doku-serie „FC Bayern – Behind the Legend“interviewen. Seit einigen Tagen ist die Reihe auf Amazon Prime zu sehen.
Oliver Kahn hat auch nach seiner aktiven Zeiten Karriere gemacht. Bei seinem Herzensklub ist er inzwischen Vorstandsvorsitzender. Der 52-Jährige gibt jetzt also den Ton an beim deutschen Rekordmeister. Mit dem früheren Torwart hat dieser Oliver Kahn, dies macht die Serie deutlich, nicht mehr allzu viel gemein. Sie zeigt vielmehr einen gereiften Mann. Weltmännisch, mitunter in fließendem Englisch parlierend, nachdenklich, reflektiert und humvorvoll. Fast jeden seiner Sätze flankiert der Titan mit einem verschmitzen Lächeln.
Wobei: Der Ehrgeiz ist dem gebürtigen Karlsruher, der das „Weiter – immer weiter“zu einem Mantra erhoben hat, selbstverständlich nicht abhandengekommen. Ein Duckmäuser ist dieser Bayern-boss genauso wenig seine Vorgänger. Nun ja, Duckmäuser wären wohl auch fehl am Platz an der Spitze eines Klubs, der sich so sehr über die Anzahl der gewonnenen Titel definiert. „Erfolg ist unser Anspruch. Erfolg ist das
Ziel“, sagt der Vorstandschef an einer Stelle ganz passend.
Einige Szenen wirken arg inszeniert, ein reines Bayern-tv ist „FC Bayern – Behind the Legend“aber nicht. Die Kamera ist fast überall dabei. In der Kabine, bei der Teambesprechung, auf der Auswechsel- und Massagebank, im Flieger, Bus, Hotelzimmer.
Leiden mit Lewandowski
„Radio“Thomas Müller läuft zur Hochform auf und dampfplaudernd durch die Serie. Wie er versucht, seinen in einer Kältekammer bibbernden Kollegen einen Witz zu erzählen und dabei die Pointe vergisst, ist sehenswert und hätte einen Comedy-preis verdient. Hängen bleiben jedoch besonders die stillen Momente. So sehen wir etwa Robert Lewandowski bedröppelt und in Unterhose auf dem Behandlungstisch seines Arztes sitzend. Als der Mediziner dem Goalgetter wegen einer Knieverletzung einige Wochen Pause verordnet, der Pole damit für die entscheidende Phase der Saison ausfällt, schaut Lewandowski derart traurig, dass man ihn am liebsten in den Arm nehmen möchte.
Und als Erfolgstrainer Hansi Flick, der mit den Bayern in nur eineinhalb Jahren unglaubliche sieben Titel gewonnen hat, nach einem Bundesliga-spiel beim VFL Wolfsburg seine verschwitzten Schützlinge darüber informiert, den Verein am Ende der Saison zu verlassen, könnte man eine Stecknadel fallen hören. Flick versagt irgendwann fast die Stimme. Es ist ein schwerer Moment für ihn. Als der Coach die Kabine verlässt, blickt die Kamera in die Gesichter von Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Manuel Neuer, Robert Lewandowski und Jérôme Boateng. Es ist mucksmäuschenstill. Die Blicke der Stars schauen ins Leere.
Regisseur Simon Verhoevens Team hat an mehr als hundert Tagen gedreht, 145 Interviews geführt und rund 2000 Stunden an Roh- und Archivmaterial zusammengetragen. Die Millionen Bayern-fans werden das fertige Produkt lieben, alle anderen zumindest gut unterhalten.