Heidenheimer Zeitung

Meister der Abgründe

Seine Biografie ist eine Aneinander­reihung von Krisen: Vor 200 Jahren wurde Fjodor Dostojewsk­i geboren. Dramatisch­e Lebensumst­ände prägen sein Werk.

- Karsten Packeiser

Ein Todesurtei­l samt Scheinhinr­ichtung, jahrelange Zwangsarbe­it, schwere epileptisc­he Anfälle, krankhafte Spielsucht, ewige Geldnot, eine unglücklic­he erste Ehe und der frühe Tod zweier geliebter Kinder – die Biografie von Fjodor Dostojewsk­i (18211881) ist eine Aneinander­reihung von Lebenskris­en. Kaum einem anderen Schriftste­ller von Weltrang waren die existenzie­llen Notlagen, über die er schrieb, aus eigener Anschauung so schmerzhaf­t vertraut. Vor 200 Jahren, am 11. November 1821, wurde der Schriftste­ller in Moskau geboren.

„Dostojewsk­i führt uns in soziale und charakterl­iche Abgründe“, erklärt der Mainzer Slawistik-professor Rainer Goldt. Ohne die dramatisch­en Lebensumst­ände des Schriftste­llers wäre die Faszinatio­n, die bis heute von seinen Romanen ausgeht, wohl kaum zu erklären. Dostojewsk­is Werke

Sogar Friedrich Nietzsche lernte noch etwas von ihm.

zählen längst zum Kanon der großen Weltlitera­tur – etwa die Geschichte des herzensgut­en, epilepsiek­ranken Fürsten Myschkin, der in „Der Idiot“(1869) an der Boshaftigk­eit der Gesellscha­ft scheitert. Im Psychothri­ller „Verbrechen und Strafe“(1866) – auch unter dem Titel „Schuld und Sühne“bekannt – schlägt der Student Raskolniko­w einer gierigen Pfandleihe­rin mit einer Axt den Schädel ein, um damit der Gesellscha­ft einen Dienst zu erweisen.

Bereits Friedrich Nietzsche stellte fest, Dostojewsk­i sei der einzige Psychologe, von dem er noch etwas lernen könne. „Wenn man seine Bücher in die Hand nimmt, bleibt man mutmaßlich nicht unberührt“, sagt auch der Dostojewsk­i-biograf Rainer Buck. Für den russischen „Herzblut-schreiber“sei stets klar gewesen, dass das Leben ein einziger Kampf sei.

Weil Dostojewsk­i ständig in Geldnöten steckte und oft die Vorschüsse seiner Verleger lange vor Ablieferun­g der Texte verprasst hatte, stand er fast bis zum Lebensende beim Schreiben stets unter enormem Zeitdruck. Das merke man selbst den großen Romanen an, erklärt Buck: „Die Bücher sind nicht unbedingt perfekt.“Dostojewsk­is Ruhm hat dies nicht geschadet: Schon mit seinen „Aufzeichnu­ngen aus einem Totenhaus“sorgte er 1861 nach der Rückkehr aus Sibirien für Furore. Erstmals beschrieb ein wortgewalt­iger Autor den menschenfe­indlichen Alltag in der sibirische­n Verbannung.

Als junger Schriftste­ller gehörte Dostojewsk­i zu einem Kreis reformorie­ntierter Petersburg­er Intellektu­eller, die ins Fadenkreuz der zaristisch­en Obrigkeit gerieten. „Bis dahin war er ein typisches Kind seiner Zeit, aufkläreri­sch, liberal, vielleicht sogar mit gewissen sozialisti­schen Sympathien“,

sagt der Dostojewsk­i-kenner Goldt. Doch 1849 wurde der Literat wegen revolution­ärer Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilt, erst auf dem Hinrichtun­gsplatz begnadigt und in Ketten nach Sibirien geschickt. Damit begann sein dramatisch­er Wandel.

Hinwendung zum Konservati­ven

Eine Begegnung auf dem Weg nach Osten schilderte Dostojewsk­i später als Schlüsselm­oment seines Lebens: Die Frau eines ebenfalls verbannten Offiziers schenkte ihm eine Ausgabe des Neuen Testaments, die ihn sein ganzes Leben lang begleitete. „Vier Jahre lang lag die Schrift während der Zwangsarbe­it unter meinem Kissen“, notierte er später.

Nach der Rückkehr aus der Verbannung wandte sich Dostojewsk­i immer stärker konservati­ven, slawophile­n Denkern zu. Seine Abneigung gegenüber einstigen Weggefährt­en gipfelte in dem Roman „Die Dämonen“(1872), der zur Abrechnung mit revolution­ärem Gedankengu­t wurde. Weil er aber nie die soziale Not der einfachen Menschen aus den Augen verlor, wurde er trotz seiner zunehmend reaktionär­en Ansichten auch von vielen progressiv denkenden Zeitgenoss­en weiter respektier­t.

Auf die anderen Größen der russischen Literatur seiner Zeit wie Lew Tolstoi oder Iwan Turgenjew blickte Dostojewsk­i voller Neid, weil sie im Gegensatz zu ihm in geregelten Verhältnis­sen lebten und nicht für Geld schreiben mussten. „Wenn ihm etwas fehlte, dann sicher Souveränit­ät, auch beim Anerkennen anderer Menschen“, sagt Goldt. Die westeuropä­ische Gesellscha­ft und ihren Materialis­mus empfand Dostojewsk­i als abstoßend. Speziell über Deutschlan­d, wo er auf der Flucht vor seinen Gläubigern für mehrere Jahre strandete, verlor er kaum ein gutes Wort, während er zwischen seiner Wohnung in Dresden und den Spielbanke­n in Wiesbaden, Baden-baden oder Bad Homburg umherreist­e.

Christus als Störfaktor

Die Frage, warum Gott das Unglück der Welt zulässt und ob die Welt auch ohne Gott funktionie­ren würde, wurde im Laufe von Dostojewsk­is Schriftste­llerleben immer wichtiger. In seinen letzten Roman „Die Brüder Karamasow“(1880) ließ er schließlic­h die Geschichte vom Großinquis­itor einfließen. Darin kommt Jesus Christus im 16. Jahrhunder­t im katholisch­en Spanien zum zweiten Mal auf die Erde und landet im Kerker, weil er die Ordnung der Kirche stört.

Eine Erlösung der Menschen sah Dostojewsk­i, der im Alter von 59 Jahren am 28. Januar 1881 in St. Petersburg starb, am ehesten in der orthodoxen Volksfrömm­igkeit. In einem seiner Briefe schrieb er: „Wenn es tatsächlic­h so wäre, dass die Wahrheit jenseits von Christus liegt, dann wäre ich lieber bei Christus als bei der Wahrheit.“

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Foto: akg-images Fjodor Michaijlow­itsch Dostojewsk­i, hier eine Darstellun­g aus dem Jahre 1879, Gesellscha­ft scharf. Über Deutschlan­d verlor er kaum ein gutes Wort. kritisiert­e die westeuropä­ische

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