Gute Aussichten
Höhere Löhne und nicht soziale Komponenten wie eine kürzere Arbeitszeit oder die Jobsicherung stehen für Igmetall-chef Jörg Hofmann bei den Tarifverhandlungen in diesem Jahr an erster Stelle. Da spricht der Vorsitzende von Deutschlands größter Gewerkschaft zweifellos nicht nur seinen Mitgliedern, sondern auch anderen Branchen aus der Seele. Angesichts von über fünf Prozent Preissteigerung zum Jahresende ist das kein Wunder, auch wenn sie im Durchschnitt des vergangenen Jahres nur gut drei Prozent betragen haben dürfte. Aber was heißt schon nur.
Hofmann ist erstaunlich zurückhaltend, wenn er als Zielmarke die zwei Prozent Inflation nennt, die die Europäische Zentralbank anpeilt. Viele Arbeitnehmer dürften deutlich mehr erwarten, schon weil manche Wirtschaftsforscher für Deutschland mit noch mehr Inflation als 2021 rechnen – je nach Entwicklung von Corona und der internationalen Materialknappheit.
Das abgelaufene Jahr war für die Geldbeutel der meisten Arbeitnehmer unerfreulich: Oft hatten sie nur bescheidene Gehaltserhöhungen, wenn überhaupt. Die Tariflöhne stiegen im Schnitt um 1,7 Prozent, zeigen Zahlen aus dem Gewerkschaftslager. Das wurde gern durch längere Laufzeiten verbrämt wie beim öffentlichen
Dienst in den Bundesländern: Die Gewerkschaft Verdi feierte ein Plus von 2,8 Prozent – aber erst ab Dezember 2022 bei zwei Jahren Laufzeit. Das wurde zwar durch 1300 Euro Corona-prämie versüßt, aber bei künftigen Tarifrunden zählt das nicht mit.
Besonders spannend ist, dass die tatsächlich gezahlten Löhne schneller steigen als in den Tarifverträgen vereinbart. Die Erklärung ist schnell zu finden: die zunehmende Knappheit von Fachkräften. In den nächsten Jahren dürfte diese Schere weiter auseinandergehen, weil Betriebe von sich aus deutlich über Tarif zahlen, um ihre Mitarbeiter zu halten, oder weil die Beschäftigten in einem ernsten Gespräch mit dem Chef mehr herausholen können. Das ist schön für die Arbeitnehmer in knappen Berufen – und schlecht für die Gewerkschaften, weil es die Bereitschaft, bei ihnen Mitglied zu werden, nicht gerade erhöhen dürfte.
Viele zahlen schon über Tarif, weil das Personal knapp wird. Fachkräfte können davon profitieren.
Zudem droht die Kluft zu den Geringverdienern größer zu werden, die nicht damit pokern können, sich eine andere, besser bezahlte Stelle zu suchen. Sie können allerdings darauf setzen, dass die neue Bundesregierung den Mindestlohn rasch auf zwölf Euro pro Stunde erhöht. Das ist ein durchaus riskantes Experiment. Zwar hat die Einführung einer Lohnuntergrenze 2015 nicht, wie von vielen Skeptikern befürchtet, zum Abbau von Stellen geführt. Aber das war mitten in einer langen Aufschwungsphase, während jetzt die Aussichten schwer abzuschätzen sind.
In den nächsten Monaten dürften Tarifverhandlungen eher ruhig über die Bühne gehen, weil außer der Chemieindustrie nur kleine Branchen verhandeln. Spannend wird es dann ab Oktober, wenn die Metallindustrie mit ihren 3,8 Millionen Beschäftigten an der Reihe ist. Die Erwartungen sind hoch – auf allen Seiten.