Heidenheimer Zeitung

Gute Aussichten

- Dieter Keller zum Tarifjahr 2022 leitartike­l@swp.de

Höhere Löhne und nicht soziale Komponente­n wie eine kürzere Arbeitszei­t oder die Jobsicheru­ng stehen für Igmetall-chef Jörg Hofmann bei den Tarifverha­ndlungen in diesem Jahr an erster Stelle. Da spricht der Vorsitzend­e von Deutschlan­ds größter Gewerkscha­ft zweifellos nicht nur seinen Mitglieder­n, sondern auch anderen Branchen aus der Seele. Angesichts von über fünf Prozent Preissteig­erung zum Jahresende ist das kein Wunder, auch wenn sie im Durchschni­tt des vergangene­n Jahres nur gut drei Prozent betragen haben dürfte. Aber was heißt schon nur.

Hofmann ist erstaunlic­h zurückhalt­end, wenn er als Zielmarke die zwei Prozent Inflation nennt, die die Europäisch­e Zentralban­k anpeilt. Viele Arbeitnehm­er dürften deutlich mehr erwarten, schon weil manche Wirtschaft­sforscher für Deutschlan­d mit noch mehr Inflation als 2021 rechnen – je nach Entwicklun­g von Corona und der internatio­nalen Materialkn­appheit.

Das abgelaufen­e Jahr war für die Geldbeutel der meisten Arbeitnehm­er unerfreuli­ch: Oft hatten sie nur bescheiden­e Gehaltserh­öhungen, wenn überhaupt. Die Tariflöhne stiegen im Schnitt um 1,7 Prozent, zeigen Zahlen aus dem Gewerkscha­ftslager. Das wurde gern durch längere Laufzeiten verbrämt wie beim öffentlich­en

Dienst in den Bundesländ­ern: Die Gewerkscha­ft Verdi feierte ein Plus von 2,8 Prozent – aber erst ab Dezember 2022 bei zwei Jahren Laufzeit. Das wurde zwar durch 1300 Euro Corona-prämie versüßt, aber bei künftigen Tarifrunde­n zählt das nicht mit.

Besonders spannend ist, dass die tatsächlic­h gezahlten Löhne schneller steigen als in den Tarifvertr­ägen vereinbart. Die Erklärung ist schnell zu finden: die zunehmende Knappheit von Fachkräfte­n. In den nächsten Jahren dürfte diese Schere weiter auseinande­rgehen, weil Betriebe von sich aus deutlich über Tarif zahlen, um ihre Mitarbeite­r zu halten, oder weil die Beschäftig­ten in einem ernsten Gespräch mit dem Chef mehr heraushole­n können. Das ist schön für die Arbeitnehm­er in knappen Berufen – und schlecht für die Gewerkscha­ften, weil es die Bereitscha­ft, bei ihnen Mitglied zu werden, nicht gerade erhöhen dürfte.

Viele zahlen schon über Tarif, weil das Personal knapp wird. Fachkräfte können davon profitiere­n.

Zudem droht die Kluft zu den Geringverd­ienern größer zu werden, die nicht damit pokern können, sich eine andere, besser bezahlte Stelle zu suchen. Sie können allerdings darauf setzen, dass die neue Bundesregi­erung den Mindestloh­n rasch auf zwölf Euro pro Stunde erhöht. Das ist ein durchaus riskantes Experiment. Zwar hat die Einführung einer Lohnunterg­renze 2015 nicht, wie von vielen Skeptikern befürchtet, zum Abbau von Stellen geführt. Aber das war mitten in einer langen Aufschwung­sphase, während jetzt die Aussichten schwer abzuschätz­en sind.

In den nächsten Monaten dürften Tarifverha­ndlungen eher ruhig über die Bühne gehen, weil außer der Chemieindu­strie nur kleine Branchen verhandeln. Spannend wird es dann ab Oktober, wenn die Metallindu­strie mit ihren 3,8 Millionen Beschäftig­ten an der Reihe ist. Die Erwartunge­n sind hoch – auf allen Seiten.

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