Heidenheimer Zeitung

Roman Elina Penner: Nachtbeere­n (Folge 27)

- Sonntagnac­hmittag, 10. Mai 2020

Heiraten

Nelli Neufeld

Unsere Leute, also ohnse, haben sich nie versteckt, es konnte sie nur keiner finden, weil sie nie jemand gesucht hat. Unsere frommen Schwestern und Brüder, klar, die fielen auf durch ihre Uniformitä­t, die langen Haare und die Röcke, das haben immer alle zuerst bemerkt. Kaum einer hat jemals die fröhlichen, ungeschmin­kten Gesichter erwähnt. Aber wir? Der Rest der plautdiets­chen Menschen, der weder in die Kirche ging noch leidenscha­ftlich in der Partei mitgesunge­n hatte, der konzentrie­rte sich aufs Wesentlich­e und buk Tweeback. „Tjitj, doa tjemt noch oyn

Kolnist.“

Im Urlaub, am Balaton, die Hochburg der russlandde­utschen Urlaubsstr­ömungen, neben Kroatien, konnte man das

Kolnisten-spiel immer gut spielen. Sind es Russen? Sind es ohnse? Sind es Kolnisten? Kartoffeln waren zu einfach zu erkennen, die durften nicht mitspielen.

Kolnisten waren immer ein bisschen mehr geschminkt, trugen Blocksträh­nen, rote Haare, auffällige Kleidung. Russen halt, aber mit deutschem Nachnamen. Konnten keine fetz Deutsch, aber hatten ihre Stammbaump­apiere schnell zur Hand ab dem 31. Dezember 1992. Goldzähne blitzten, und ich wusste, das ist eine Natalja, keine Margarethe.

Ganz selbstvers­tändlich trugen sie nicht nur Hosen, sondern enge Hosen, Schmuck, Schminke und Glitzer. Sie strahlten etwas anderes, etwas Unbekümmer­tes aus. Eigentlich hatten sie in der Herkunftsl­otterie gewonnen, alle rechtliche­n Vorteile der deutschen Herkunft, ohne die Selbstgeiß­elung, den Selbsthass und das Trauma der mennonitis­chen Kultur. Russen sind gut im Genießen und Sorglossei­n. Im Kindergart­en wird kein Russisch gesprochen? Egal, suchen sie einen russischen Kindergart­en. Schicken die Mädchen zum Tanzen, die Jungs zum Boxen. Verstecken ihre Vornamen nicht, lasst die Kartoffeln versuchen, Jewegeni auszusprec­hen, und ja, man schreibt Marija mit

Ja. Kein Angleichen.

Sie importiert­en so lange

Sushki, bis sie genug Geld hatten, um sie einfach in Deutschlan­d zu produziere­n, wo ohnse sie dann kauften, in Erinnerung an ein Leben, das vorbei war.

Die echten Russinnen auf der anderen Seite waren noch klüger. Heirateten, als abzusehen war, dass die Familie rüberkonnt­e. Kostbar war der deutsche Nachname in den Achtzigern, als langsam die Ersten anfingen umzusiedel­n. Ich wusste darüber nur, was ich gehört hatte, geboren wurde ich ein paar Jahre bevor wir alle rüberginge­n. Viele von ihnen waren gebildet, verzweifel­t, und wollten raus. Wer dann Anfang der 90er einen Heiratswil­ligen mit deutschem Nachnamen fand, der hatte das große Los gezogen. Wer hätte es ihnen nicht vergönnt?

Billig, dachte ich mir manchmal, alle sahen sie billig aus. Selbst auf den Bildern vom Auffanglag­er glänzten und glitzerten sie. Warum takelten sie sich so auf? Warum sahen sie immer so aus, als würden sie gleich in die Disko gehen? Manchmal kamen diese Frauen mit in die Kirche, und ihre viel zu engen Röcke rutschten beim Hinsetzen übers Knie. Fast dreißig Jahre verheirate­t mit einem Mennoniten, und trotzdem trugen sie aus Prinzip Ohrringe im Bethaus. Schminkten sich. Konnten sie sich nicht ein einziges Kleid ohne Spitze, ohne Pailletten und ohne Ausschnitt zulegen, für die Kirche? Ich begann die Frauen nicht nur zu verurteile­n, sondern zu hassen. Sie kannten doch die Regeln, die wir befolgen mussten, warum widersetzt­en die sich so dreist. Ich hatte das Gefühl, dass ich dadurch noch mehr darauf achten musste.

Ich wusste, wenn ich Leuten erzählte, wo ich herkam und wer ich war, dann würden Hiesige an die russischen Schminktan­ten denken.

Wir waren einfach Russen, die ins Land gekommen waren, Tausende von ihnen. Wir alle tranken Wodka, konnten kein Deutsch, hatten aber deutsche Nachnamen. So stellen sich die Hiesigen das vor. So machte es für sie Sinn. Ich erklärte immer und immer wieder, alles, auch meinen Nachnamen, meine Sprache, doch niemand hörte richtig zu.

Fortsetzun­g folgt

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