Heidenheimer Zeitung

„Das ist Augenwisch­erei“

Der Experte Gerhard Trabert sieht im neuen Bürgergeld keinen entscheide­nden Fortschrit­t gegenüber Hartz IV.

- Olesja Risto

Berlin. Anfang des Jahres soll das Bürgergeld in Kraft treten. Bringt es eine Verbesseru­ng? Nein, findet der Mediziner und Vorsitzend­e des Vereins Armut und Gesundheit, Gerhard Trabert.

Das geplante Entlastung­spaket sieht das Bürgergeld vor. Sehen Sie darin eine Verbesseru­ng? Gerhard Trabert:

Ich finde, es ist Augenwisch­erei. Es ist gut, dass man weniger Sanktionen und mehr den Aspekt der Wertschätz­ung, der Unterstütz­ung und der Hilfe in den Fokus stellt. Aber der Betrag selbst ist viel zu gering. Alle Expertisen sagen, es müssen mindestens 200 Euro mehr sein. Da wären wir bei ungefähr bei 660 Euro.

Motiviert man die Menschen damit nicht eher dazu, in die abgesicher­te Arbeitslos­igkeit zu gehen?

Meine 25-jährige Erfahrung zeigt: die Menschen wollen arbeiten. Mit der Arbeit ist Wertschätz­ung verbunden, eine Aufgabe, eine Routine im Alltag. Und gerade wir Männer, wir definieren uns sehr stark über Einkommen, über Arbeit. Geht das verloren, ist das häufig mit einem eklatanten Selbstwert­verlust verbunden.

Die Handwerksk­ammer meint, wegen der gestiegene­n Sozialleis­tungen geben Menschen ihre Arbeit auf.

Es ist fatal, dass die Handwerksk­ammer zu vermitteln versucht, es wäre viel zu viel und ein Anreiz, um nicht zu arbeiten. Man stigmatisi­ert und diskrimini­ert die Menschen, wenn man ihnen unterstell­t, 50 Euro mehr könnten den Antrieb, eine Arbeit zu finden, verringern. Und wenn die Handwerksk­ammer das jetzt so kritisiert, dann ist es ein Armutszeug­nis für die Löhne, die im Handwerk gezahlt werden. Sie müssen höher sein.

Wäre mehr Geld denn realisierb­ar?

Wir sind ein reiches Land. Wir haben Geld. Der Staat muss allerdings intervenie­ren, damit es eine Verteilung­sgerechtig­keit gibt. Es scheint rechtlich schwierig zu sein. Aber so ein Entlastung­spaket muss nicht für alle Bürger umgesetzt werden. Viele sind in der Situation, dass sie Hilfe bekommen, aber nicht bedürftig sind. Bedürftige hingegen benötigen mehr Zuwendung. Da würde ich mir mehr selektive Unterstütz­ung wünschen.

Welche Folgen könnte es haben, wenn noch mehr Menschen unter die Armutsgren­ze rutschen?

Wir reden viel von Bedrohunge­n der Demokratie von außen, durch Russland. Was aber wenig beachtet wird, ist, dass wir Demokratie­n natürlich auch im Inneren stabilisie­ren müssen. Und das bedeutet, wir dürfen nicht zulassen, dass so viele Menschen sich abgehängt, ausgegrenz­t, sich nicht mehr beachtet fühlen. Denn wenn das der Fall ist, so kann es gut sein, dass Menschen, die in einer derart existenzie­llen Situation sind, empfänglic­her werden für Rechtspopu­listen, Rassisten und die Demokratie von innen destabilis­iert wird.

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