„Na gut, gehen wir schießen“
Die von Wladimir Putin angekündigte Mobilmachung für die ukrainische Front ist in vielen Regionen in vollem Gange. Manche finden das gut, andere protestieren.
In der Moskauer Vorstadt Odinzowo wird nicht demonstriert. Am städtischen Teich vor dem Lenin-denkmal stehen einige Leute, jemand spielt Gitarre. „Wir sind alle geschockt“, sagt Nikolai und grinst schräg. Nikolai ist 34, Damenfriseur, hat bei den Streitkräften des Innenministeriums gedient und sagt, man könne ihn zur Nationalgarde einziehen. „Die Jungs werden ja auch in der Ukraine eingesetzt.“Aber er werde nicht mitmachen bei dieser Gangsterei. „Ich will niemanden umbringen, schon gar nicht in der Ukraine.“
Wladimir Putins Entscheidung, eine Teilmobilmachung auszurufen, hat bei den Russen ein Wirrwarr aus Entsetzen, Angst und Genugtuung hervorgerufen. Die ersten Gestellungsbefehle wurden bereits zugestellt. Laut Verteidigungsminister Sergei Schoigu sollen nur gediente Wehrpflichtige mit militärischer Ausbildung und Kampferfahrung gezogen werden, das sei ein Prozent der gesamten Reserve. Aber viele Russen befürchten, dass die Teilmobilmachung zu einer Dauerkampagne wird, die sie oder ihre Familienangehörigen willkürlich treffen könnte. Nach Angaben der Exilzeitung „Nowaja Gaseta Ewropa“ist in einem nichtöffentlichen Punkt des Präsidenten-ukas über die Mobilisierung von bis zu einer Million Russen die Rede.
Am Mittwochabend gingen in Moskau, Petersburg und über 30 anderen russischen Städten noch einmal wagemutige Russen auf die Straße, um für den Frieden und gegen die Mobilmachung zu protestieren. Ein Großteil, nach Angaben des Bürgerrechtsportal OVD News 1310 Menschen, wurde festgenommen. Allein auf 15 Moskauer Polizeiwachen verteilte man danach Gestellungsbefehle an männliche Demonstranten.
In mehreren Regionen tauchten Verordnungen auf, die es Männern im wehrfähigen Alter (18 bis 50 für Soldaten, bis 60 für Offiziere) verbieten, das Gebiet zu verlassen. „Die Stimmung im Dorf ist im Keller“, sagt ein Landwirt aus der Region Kursk. Mehrere seiner Traktorfahrer hätten Angst, dass es sie auch erwischt. Die Ungewissheit sei schon jetzt zermürbend.
In anderen Regionen läuft die Mobilisierung auf Hochtouren.
Nach Angaben von sibreal.org zogen Beamte der Kriegskommissariate gemeinsam mit Polizisten die ganze Nacht durch den 5500-Seelen-ort Kurumkan in Burjatien und transportierten die Einberufenen in vier Autobussen ab. Und die Journalistin Janina Nimajewa aus Ulan Ude berichtet auf Instagram von ihrem ungedienten Mann, 38, der ebenfalls eingezogen wurde. Obwohl er fünf Kinder hat – den Regeln gemäß sind Familienväter mit mehr als drei Kindern vom Kriegsdienst befreit. „Ich bin 45, hab vor 1000 Jahren gedient“, sagte ein 45-jähriger Burjate dem Portal meduza.io. „Na gut, gehen wir eben schießen.“
Aber das wollen viele Russen nicht, obwohl Wladimir Putin allen Rekrutierten den gleichen Monatssold wie Vertragssoldaten versprochen hat, also mindestens 163 000 Rubel, (2700 Euro). Die BBC berichtet von einem jungen Mann, der von seiner Mutter erfuhr, dass es einen Gestellungsbefehl für ihn gibt, er hat sich in seiner Wohnung eingeschlossen und öffnet niemandem. Ein anderer möchte sich lieber einsperren lassen, als an die Front zu gehen. Und zahlreiche Russen bemühen sich, an ärztliche Atteste zu gelangen, um der Einberufung zu entgehen. An den Grenzen nach Kasachstan, Georgien, Belarus und Finnland stauen sich laut dem Portal svoboda.org Pkw, die Russland verlassen wollen. Bei Werchni Las an der georgischen Grenze filmte ein Fahrer den Stau. Er sprach von einer fünf bis sechs Kilometer langen Warteschlange, in der er seit acht Stunden stehe. In der Region Orenburg und der Petersburger Vorstadt Lomonossow wurden laut dem Portal zona. medie zwei Kriegskommissariate in Brand gesetzt. Und nach Angaben russischer und ukrainischer Medien berät die Europäische Kommission mit den Eu-staaten über die Ausgabe humanitärer Visa an Russen nach Beginn der Aushebungen. Deren Ausmaß ist unklar, ebenso die Anzahl der Männer, die versuchen, ihr zu entkommen. Es gibt auch Russen, die die Mobilmachung begrüßen. „Habe ich doch gesagt, darauf lief doch alles hinaus, bisher haben wir in der Ukraine nur mit halber Kraft gekämpft“, sagt der Petersburger Verlagskaufmann Alexander. Der Misserfolg bei Charkow habe allen klargemacht, dass man ohne Reserven nicht gewinnen kann. Alexander, 38, selbst untauglich, glaubt, dass die Armee den Feldzug nun zielstrebig zu Ende führen wird. „Russland startet schlecht in jeden Krieg und gewinnt am Ende doch.“
Am Teich in Odinzowo hält Nikolai einen Plastikbecher mit Wodka in der Hand. „Wenn sie mich einziehen wollen, verstecke ich mich, versuche ins Ausland zu kommen, die müssen mir doch politisches Asyl geben.“Aber jetzt wolle er trinken.
Polizisten durchkämmen den Ort und bringen die Einberufenen in Bussen weg.