Brutaler Wertverlust
Während die Deutschen das Phänomen gerade kennenlernen, leben die Menschen in Argentinien seit Jahren mit Raten um die 70 Prozent. Das trifft vor allem die Arbeiter, für die jeder Tag zum Überlebenskampf wird.
Wer überleben will, muss früh am Morgen aufstehen: Vater Damian und Sohn Ricardo ziehen dicke Wollmützen auf, dazu wärmende Fleecejacken. „Es ist kalt in Buenos Aires zu dieser Jahreszeit“, sagt Damian im südamerikanischen Winter. „Und damit meine ich nicht nur das Wetter“. Eigentlich hat die Familie ein kleines Umzugsunternehmen, doch das Geschäft läuft schlecht. Die Inflation hat das Land fest im Griff. Was die Deutschen seit ein paar Monaten kennenlernen, ist für die Argentinier Alltag: Ihr Geld wird immer weniger wert. Seit Jahren, nur viel schlimmer. „Wir leben eigentlich nur noch von einem zum anderen Tag“, sagt Damian. „Wir schauen, dass wir die Tageseinnahmen gleich umsetzen. Lebensmittel, Obst.“
Tagsüber ziehen sie zu Fuß durch die Straßen und sammeln mit einem Karren Papier und Pappe ein. Mit dem Umzugswagen wäre das zu teuer – das Benzin. „Für ein Kilo Pappe gibt es 28 Pesos“, sagt Damian. Das sind nach offiziellem Kurs ungefähr 20 Cent, nach inoffiziellem Kurs wären es etwa 40 Cent, doch die Familie hat keine Dollars oder Euros, die sie auf der Straße tauschen könnte, sondern ist dem brutalen Wertverlust des argentinischen Pesos ausgesetzt. „Alles wird teurer: der Sprit, der Strom, die Lebensmittel. Aber wir bekommen trotzdem nur 28 Pesos für ein Kilo Pappe. Ist sie feucht, ziehen sie etwas ab“, sagt er.
Am Ende des Tages sind es zwölf Stunden, die sie auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs waren. Wie Hunderte andere Müllsammler, die ihren Karren mühsam über den Asphalt ziehen. Ein Kilo Brot kostet inzwischen etwa 400 Pesos – oder umgerechnet: 14 Kilo Pappe, die sie mühsam zusammensuchen müssen. Doch schon nächste Woche können es 500 Pesos für ein Brot sein.
Manche tauschen Kleidung gegen Essen
Ein paar Straßen weiter bekommt Kioskbesitzerin Ana Maria die Konsequenzen der Inflation doppelt zu spüren. „Die Preise steigen, jeden Tag. Aber wir nehmen nicht mehr ein“, sagt die Mutter. „Meine Familie macht das krank. Einige haben gesundheitliche Probleme.“Die Abgaben, die Steuern, die Lebenshaltungskosten, das alles ist eigentlich nur noch zu stemmen, wenn man sich mit anderen zusammentut. Viele ihrer Kunden haben mindestens einen Zweitjob, um irgendwie über die Runden zu kommen. „Es geht um die einfache Frage: Reicht es noch für Käse oder Wurst zum Frühstück, oder gibt es nur noch Brot.“Einige fangen bereits an zu tauschen, berichtet Ana Maria: Kleidung oder Haushaltswaren gegen Lebensmittel.
Zwei Beispiele aus der Arbeiterschicht in Buenos Aires, die zeigen, wie sehr die Menschen in Argentinien unter der chronischen Inflation leiden. Allein im Juli 2022 lag die Inflationsrate bei 71 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Zum Vergleich: In Deutschland lag sie im gleichen Monat bei 7,5 Prozent.
Der Werteverlust zerreißt das Land gesellschaftlich. Argentinien teilt sich in zwei Lager auf, deren charismatische Anführer unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Züge nun aufeinander zufahren. Der eine: Juan Grabois, Arbeiterführer, Sozialaktivist und stramm links. Wenn er die Armen zusammenruft, dann kommen leicht Tausende zusammen. Wie an diesem Morgen an einer der wichtigen Verbindungsbrücken zwischen dem Umland und der Stadt Buenos Aires. Grabois brüllt auf einem Pritschenwagen stehend ins Mikrofon: „Was kann man denn mit 1000 Pesos heute noch kaufen?“Eine Frage, die sich Millionen Argentinier jeden Tag aufs Neue stellen.
Grabois könnte in den nächsten Monaten und im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf 2023 zu einer Schlüsselfigur werden. Der amtierende Präsident Alberto Fernandez gilt als einer der glücklosesten der letzten Jahrzehnte, musste zuletzt innerhalb von vier Wochen zweimal die Spitze des Wirtschaftsministeriums austauschen. Vizepräsidentin Cristina Kirchner, ein Alphatier der Linken, wird von der Staatsanwaltschaft beschuldigt, ein milliardenschweres Korruptionsnetzwerk anzuführen. Zwölf Jahre Haft stehen im Raum. Kirchner spricht von einer politischen Kampagne gegen sich und mobilisiert ihre Basis. Es kommt bisweilen zu ersten Straßenschlachten.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht mit Javier Milei die derzeit wohl schillerndste Figur der argentinischen Politik. Er ist ein radikaler Marktliberaler mit Rockmusiker-attitüde. Und seine Thesen ziehen vor allem die argentinische Jugend in ihren Bann, die in der Dauerkrise verzweifelt eine Persönlichkeit sucht, die ihr einen Ausweg aufzeigt. Die ihnen Hoffnung macht, dass es irgendwann vorbei ist mit Inflation, Korruption, Aussichtslosigkeit.
Milei ist Wirtschaftswissenschaftler, seine Popularität beruht auf seinen Experteneinschätzungen im Fernsehen – meist drastisch, populistisch formuliert. Argentinien müsse den Dollar einführen, sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. „Im Grunde bestimmt ja der Dollar schon jetzt unser Leben.“Der Peso sei nur noch Abfall. Milei will das Land ganz neu organisieren, den Staat radikal verschlanken. „Argentinien hat 165 Steuern und 70 000 Vorschriften. Das heißt, eigentlich sind wir Sklaven“, sagt Milei. „Sie können sehen, dass Irland, einst eines der ärmsten Länder in Europa, dank marktfreundlicher Reformen heute ein Prokopf-bip hat, das mehr als zehn Prozent höher ist als das der Vereinigten Staaten. Wenn Sie sich also der Freiheit öffnen, beginnen die Menschen damit, Möglichkeiten zu entdecken.“Für Milei bedeutet Marktliberalität Freiheit und Chancen. Und immer mehr Argentinier glauben ihm. In Umfragen werden ihm gute Chancen eingeräumt, 2023 in die Stichwahl um das Präsidentenamt zu kommen.
Ganz anders sieht das sein Gegenspieler Grabois: Er will auf staatlicher Ebene ein Mindesteinkommen durchsetzen, um den akut Betroffenen aus dem Elend zu helfen. „Ohne dieses Mindesteinkommen ist die Gesellschaft zutiefst ungerecht, sonst gibt es einen Sektor von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die keinen Schutz haben. Dann fallen sie in Argentinien nicht in Armut zurück, sondern geraten in extreme Armut, in Bedürftigkeit“, sagt Grabois. Finanziert werden soll der Vorschlag durch Umverteilung, im Prinzip durch eine Übergewinnsteuer: „Nehmen Sie das eine Prozent heraus, das die großen Unternehmen besitzt, die immer in allen Krisen gewinnen. Und stellen Sie diese Mittel den ärmsten Sektoren der Gesellschaft zur Verfügung.“Auch Grabois bekommt mehr und mehr Zulauf, wird zu einer Art Ikone der Verzweifelten und Abgehängten in Argentinien. Er spricht ihre Sprache, marschiert bei Demos in der ersten Reihe und attackiert auch die Mächtigen aus dem eigenen Lager.
„Bislang ist allerdings noch gar nicht genau definiert, wie ein ‚Salario Basico Universal‘ eigentlich ausgestaltet wird“, sagt der deutsche Wirtschaftsberater Carl Moses aus Buenos Aires. Das gebe Raum für politische Spekulationen und Interpretationen. Mindestlohn, Grundeinkommen, Mindesteinkommen. So richtig ist das noch nicht umrissen, was Grabois will.
Während die Politiker streiten, ist Gemüsehändler Hugo im Ortsteil San Telmo mit dem Alltag konfrontiert: „Die Leute konsumieren weniger“, sagt er inmitten von Gurken, Paprika und Kartoffeln. Weniger Konsum bedeutet für ihn weniger Umsatz, weniger Gewinn. Also sparen. Doch das geht nicht. „Die Preise bei den Lieferanten steigen, ich muss die Ware teurer einkaufen, also werden Obst und Gemüse teurer.“Dafür werden die Armenspeisungen immer voller.
Argentinien ist in einer Spirale angekommen, aus der es scheinbar kaum einen Ausweg gibt. Die aktuelle Regierung Fernandez hatte bei ihrem Wahlsieg Ende 2019 versprochen, die Armut und den Hunger zu bekämpfen. Doch dann kam Corona, und Fernandez machte sein Land komplett dicht. Trotzdem starben viele, und die Wirtschaft schmierte ab. Für das Fernandez-lager trägt ein MilliardenKredit, den die Vorgänger-regierung des konservativen Präsidenten Mauricio Macri aufnahm, Schuld an dem Debakel. Die Opposition wiederum wirft Fernandez vor, die Wirtschaft des Landes ruiniert zu haben. Im nächsten Jahr müssen die Argentinier darüber entscheiden, wem sie mehr glauben. Bis dahin müssen sie durchhalten. Irgendwie.