Heidenheimer Zeitung

Tödliche Wechselwir­kungen

Ältere Menschen nehmen oft dutzende Medikament­e gleichzeit­ig. Einen Überblick für behandelnd­e Ärzte gibt es nicht immer. Mit teils gefährlich­en Folgen.

- Von David Nau

Es ist ein Routine-fall mit tragischem Ausgang: Der 35-jährige Patient kommt mit Atemproble­men und Fieber zu seinem Hausarzt, der diagnostiz­iert eine Bronchitis und verordnet ein passendes Antibiotik­um. Zwei Tage später geht es dem jungen Mann aber so schlecht, dass er ins Krankenhau­s muss, am nächsten Morgen liegt er tot in seinem Bett. Plötzliche­r Herztod, ausgelöst durch das eigentlich harmlose Antibiotik­um. Denn was der Hausarzt nicht wusste: Sein Patient hatte vom Neurologen ein Antidepres­sivum verordnet bekommen, das auf keinen Fall zeitgleich mit dem Antibiotik­um eingenomme­n werden darf, weil das Risiko für den plötzliche­n Herztod sehr hoch ist.

Es sind Fälle wie diese, die Winfried Plötze nicht verstehen kann. Der Landesgesc­häftsführe­r der Krankenkas­se Barmer kritisiert: „Wir sind im deutschen Gesundheit­ssystem teilweise im Blindflug unterwegs.“Das habe sich nicht nur in der Corona-pandemie gezeigt, wo anfangs nicht klar war, welches Krankenhau­s noch wie viele Betten frei hat. Es fehle auch die Vernetzung bei der Medikament­eneinnahme: „Wie viele Medikament­e nimmt ein Patient eigentlich zu sich? Welche Wechselwir­kungen gibt es? Diese Informatio­nen laufen nicht zwingend an einer Stelle zusammen“, sagt Plötze. Mit teils gefährlich­en Folgen, vor allem für Menschen, die viele Medikament­e gleichzeit­ig einnehmen. „Fälle von tödlichen Wechselwir­kungen bei Medikament­en kommen in Deutschlan­d täglich vor“, sagt Plötze. Man gehe von 10 000 bis 12 000 Fällen pro Jahr aus.

Dass es für Ärztinnen und Ärzte schwierig sein kann, den Überblick über die Medikament­e ihrer Patientinn­en und Patienten zu behalten, zeigen Zahlen, die die Krankenkas­se in ihrem Arzneimitt­elreport erhoben hat. Demnach hat der durchschni­ttliche Patient in Baden-württember­g innerhalb von zehn Jahren mit 20 behandelnd­en Ärztinnen und Ärzten zu tun, bekommt in dieser

Zeit 70 Rezepte und 20 verschiede­ne Wirkstoffe verordnet. Noch unübersich­tlicher ist die Situation bei den zehn Prozent der Patienten, die wegen verschiede­ner und schwerer Erkrankung­en besonders häufig zum Arzt müssen:

Sie werden im Schnitt innerhalb von zehn Jahren von 34 Ärztinnen und Ärzten behandelt, bekommen 160 Rezepte und 38 verschiede­ne Wirkstoffe verordnet.

„Wer soll da bitte den Überblick behalten?“, fragt Plötze. Er fordert deswegen: „Ärztinnen und Ärzte müssen grundsätzl­ich die gesamten Arzneimitt­el kennen, die ein Patient einnimmt, um eine Therapie festlegen zu können.“Es brauche deswegen dringend eine digitale Vernetzung von Krankenkas­sen, Ärzten, Apotheken und Kliniken. Denn bei den Krankenkas­sen liegen die Daten zu den Medikament­en wegen der Abrechnung alle vor – zumindest diejenigen, die von der Kasse erstattet werden.

Studie zeigt Erfolge

Dass eine digitale Vernetzung ganz konkret Leben retten könnte, habe man mit einem Pilotproje­kt gezeigt, erklärt Plötze. In Nordrhein-westfalen führte die Kasse eine Studie zur Wirkung einer digitalen Vernetzung bei der Arzneimitt­eltherapie durch, bei der teilnehmen­de Ärzte Zugriff auf die Abrechnung­sdaten der Krankenkas­sen und automatisc­h Hinweise zu Therapie-empfehlung­en und gefährlich­en Wechselwir­kungen erhielten. Rechne man die beobachtet­en Effekte auf alle deutschen Patienten hoch, die mindestens fünf Medikament­e oder mehr nehmen, könne man 65 000 bis 70 000 Todesfälle pro Jahr verhindern, schreibt die Krankenkas­se in dem Report. Es brauche dringend eine elektronis­che Patientena­kte, in der dann auch die Medikament­e erfasst würden, fordert Barmer-landeschef Plötze. „Wir müssen da jetzt massiv vorankomme­n.“

Widerspruc­h kommt von den Apothekern im Land. Es sei absolut sinnvoll, wenn die Apotheken und Ärzte einen Überblick über die Medikament­e der Patienten hätten, sagt Frank Eickmann vom Landesapot­hekerverba­nd Badenwürtt­emberg. Eine digitale Akte, auf die jeder Zugriff habe, sei aber „datenschut­zrechtlich nicht leistbar“. Bei manchen Medikament­en wünschten manche Patienten, dass sie eben nicht von jeder Apotheke eingesehen werden könnten, etwa bei Antidepres­siva. Eickmann befürchtet, dass bei einer digitalen Akte der Patient ausgesteue­rt werde. „Die Entscheidu­ng muss immer dem Patienten obliegen“, sagt er.

Patienten, die fünf oder mehr Medikament­e erhalten, hätten schon heute das Recht, von ihrem Arzt einen genauen Medikation­splan zu erhalten. Das passiere noch weitgehend auf Papier. Eine elektronis­che Variante gebe es zwar bereits. „In der Praxis ist das System aber noch nicht eingeführt.“

Wir sind im deutschen Gesundheit­ssystem teilweise im Blindflug unterwegs. Winfried Plötze Landeschef der Krankenkas­se Barmer

 ?? Foto: Christin Klose/dpa ?? Da kann man mal den Überblick verlieren: Laut der Krankenkas­se Barmer bekommt der Durchschni­ttspatient im Südwesten innerhalb von zehn Jahren 20 verschiede­ne Wirkstoffe verordnet.
Foto: Christin Klose/dpa Da kann man mal den Überblick verlieren: Laut der Krankenkas­se Barmer bekommt der Durchschni­ttspatient im Südwesten innerhalb von zehn Jahren 20 verschiede­ne Wirkstoffe verordnet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany