Tödliche Wechselwirkungen
Ältere Menschen nehmen oft dutzende Medikamente gleichzeitig. Einen Überblick für behandelnde Ärzte gibt es nicht immer. Mit teils gefährlichen Folgen.
Es ist ein Routine-fall mit tragischem Ausgang: Der 35-jährige Patient kommt mit Atemproblemen und Fieber zu seinem Hausarzt, der diagnostiziert eine Bronchitis und verordnet ein passendes Antibiotikum. Zwei Tage später geht es dem jungen Mann aber so schlecht, dass er ins Krankenhaus muss, am nächsten Morgen liegt er tot in seinem Bett. Plötzlicher Herztod, ausgelöst durch das eigentlich harmlose Antibiotikum. Denn was der Hausarzt nicht wusste: Sein Patient hatte vom Neurologen ein Antidepressivum verordnet bekommen, das auf keinen Fall zeitgleich mit dem Antibiotikum eingenommen werden darf, weil das Risiko für den plötzlichen Herztod sehr hoch ist.
Es sind Fälle wie diese, die Winfried Plötze nicht verstehen kann. Der Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer kritisiert: „Wir sind im deutschen Gesundheitssystem teilweise im Blindflug unterwegs.“Das habe sich nicht nur in der Corona-pandemie gezeigt, wo anfangs nicht klar war, welches Krankenhaus noch wie viele Betten frei hat. Es fehle auch die Vernetzung bei der Medikamenteneinnahme: „Wie viele Medikamente nimmt ein Patient eigentlich zu sich? Welche Wechselwirkungen gibt es? Diese Informationen laufen nicht zwingend an einer Stelle zusammen“, sagt Plötze. Mit teils gefährlichen Folgen, vor allem für Menschen, die viele Medikamente gleichzeitig einnehmen. „Fälle von tödlichen Wechselwirkungen bei Medikamenten kommen in Deutschland täglich vor“, sagt Plötze. Man gehe von 10 000 bis 12 000 Fällen pro Jahr aus.
Dass es für Ärztinnen und Ärzte schwierig sein kann, den Überblick über die Medikamente ihrer Patientinnen und Patienten zu behalten, zeigen Zahlen, die die Krankenkasse in ihrem Arzneimittelreport erhoben hat. Demnach hat der durchschnittliche Patient in Baden-württemberg innerhalb von zehn Jahren mit 20 behandelnden Ärztinnen und Ärzten zu tun, bekommt in dieser
Zeit 70 Rezepte und 20 verschiedene Wirkstoffe verordnet. Noch unübersichtlicher ist die Situation bei den zehn Prozent der Patienten, die wegen verschiedener und schwerer Erkrankungen besonders häufig zum Arzt müssen:
Sie werden im Schnitt innerhalb von zehn Jahren von 34 Ärztinnen und Ärzten behandelt, bekommen 160 Rezepte und 38 verschiedene Wirkstoffe verordnet.
„Wer soll da bitte den Überblick behalten?“, fragt Plötze. Er fordert deswegen: „Ärztinnen und Ärzte müssen grundsätzlich die gesamten Arzneimittel kennen, die ein Patient einnimmt, um eine Therapie festlegen zu können.“Es brauche deswegen dringend eine digitale Vernetzung von Krankenkassen, Ärzten, Apotheken und Kliniken. Denn bei den Krankenkassen liegen die Daten zu den Medikamenten wegen der Abrechnung alle vor – zumindest diejenigen, die von der Kasse erstattet werden.
Studie zeigt Erfolge
Dass eine digitale Vernetzung ganz konkret Leben retten könnte, habe man mit einem Pilotprojekt gezeigt, erklärt Plötze. In Nordrhein-westfalen führte die Kasse eine Studie zur Wirkung einer digitalen Vernetzung bei der Arzneimitteltherapie durch, bei der teilnehmende Ärzte Zugriff auf die Abrechnungsdaten der Krankenkassen und automatisch Hinweise zu Therapie-empfehlungen und gefährlichen Wechselwirkungen erhielten. Rechne man die beobachteten Effekte auf alle deutschen Patienten hoch, die mindestens fünf Medikamente oder mehr nehmen, könne man 65 000 bis 70 000 Todesfälle pro Jahr verhindern, schreibt die Krankenkasse in dem Report. Es brauche dringend eine elektronische Patientenakte, in der dann auch die Medikamente erfasst würden, fordert Barmer-landeschef Plötze. „Wir müssen da jetzt massiv vorankommen.“
Widerspruch kommt von den Apothekern im Land. Es sei absolut sinnvoll, wenn die Apotheken und Ärzte einen Überblick über die Medikamente der Patienten hätten, sagt Frank Eickmann vom Landesapothekerverband Badenwürttemberg. Eine digitale Akte, auf die jeder Zugriff habe, sei aber „datenschutzrechtlich nicht leistbar“. Bei manchen Medikamenten wünschten manche Patienten, dass sie eben nicht von jeder Apotheke eingesehen werden könnten, etwa bei Antidepressiva. Eickmann befürchtet, dass bei einer digitalen Akte der Patient ausgesteuert werde. „Die Entscheidung muss immer dem Patienten obliegen“, sagt er.
Patienten, die fünf oder mehr Medikamente erhalten, hätten schon heute das Recht, von ihrem Arzt einen genauen Medikationsplan zu erhalten. Das passiere noch weitgehend auf Papier. Eine elektronische Variante gebe es zwar bereits. „In der Praxis ist das System aber noch nicht eingeführt.“
Wir sind im deutschen Gesundheitssystem teilweise im Blindflug unterwegs. Winfried Plötze Landeschef der Krankenkasse Barmer