Kampf um die Straße
Autos, E-scooter, Räder: Der Platz wird immer knapper. Was tut die Bundesregierung, um das Ziel von null Verkehrstoten zu erreichen?
Laut quietschende Bremsen, Hupen, ein Aufprall. Die Autoscheibe zerbricht, die Stoßstange ist verbogen und der Radfahrer liegt am Boden: Viele haben solche Verkehrsunfälle schon einmal miterlebt oder waren sogar selbst beteiligt. Radfahren in Städten ist lebensgefährlich. 2021 starben 367 Menschen bei Verkehrsunfällen unter Beteiligung von Radfahrern, 359 davon waren Radfahrer. Die Bundesregierung hat sich die Vision Zero zum Ziel gesetzt: Auf deutschen Straßen soll es keine Verkehrstoten mehr geben.
Das Ziel ist schwer zu erreichen – und es wird immer komplizierter. Denn seit Jahren steigt die Zahl der Radfahrer. Durch Pedelecs, den Ausbau von Radstreifen in Städten sowie Fernradwege wird der Radverkehr immer schneller. Die Straßen bleiben aber gleich groß, weshalb Autound Radfahrer sich den knappen Raum teilen müssen. „Die Zahl der Radunfälle verändert sich dennoch seit Jahren kaum“, sagt der Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), Siegfried Brockmann. Allerdings sehen Experten verschenkte Potenziale, was die Sicherheit im Straßenverkehr angeht. Was muss passieren, um der Vision Zero so nahe wie möglich zu kommen?
Bevor man sich Lösungen anschaut, muss man die Ursachen kennen: Bei Unfällen zwischen Rad- und Autofahrern liege die Schuld in rund drei Viertel der Fälle bei den Pkw-fahrern, so Unfallforscher Brockmann. Die zwei häufigsten Quellen sind Abbiegeunfälle und die Dooring-unfälle, bei denen Radler gegen unvorsichtig geöffnete Türen parkender Pkw prallen. „Die Schuld bei Dooring-unfällen ist zu einhundert
Prozent den Autofahrern zuzuschreiben“, sagt Brockmann. Ähnlich sieht er es bei Abbiegeunfällen: „Wer abbiegt, hat die Sorgfaltspflicht.“
Aber nicht immer sind Autofahrer schuld. Bei ungefähr jedem vierten Radunfall ist keine andere Partei beteiligt. Für solche Unfälle
gibt es viele Ursachen. Häufig hängt es mit der Infrastruktur zusammen. Das sieht auch Stephanie Krone, Sprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), so. Radwege seien oft kaputt oder gar nicht existent. „Alles ist noch auf den Pkw ausgelegt – und die immer mehr und immer größer werdenden Autos nehmen allen anderen Verkehrsarten schlichtweg immer mehr Straßenraum weg. Das frustriert“, sagt Krone.
Die Lösung ist, Radfahrern mehr Raum im Straßenverkehr zu geben. Doch das allein reicht nicht aus. Laut Brockmann sollte es auch vermehrt separate Grünphasen für Abbieger geben. So ließen sich Abbiegeunfälle vermeiden. Außerdem müssten Sicherheitstrennstreifen von 75 Zentimetern zu parkenden Autos installiert werden, um Karambolagen mit aufgehenden Türen zu verhindern. „Dass das nicht in einem viel schnelleren und größeren Ausmaß passiert, erschließt sich mir überhaupt nicht“, kritisiert Brockmann.
Auf Bundesebene ist schon einiges passiert, um die Sicherheit für Radfahrer zu erhöhen. 2018 hat der Vorgänger von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), Andreas Scheuer (CSU), die „Aktion Abbiegeassistent“gestartet. Mittlerweile sind elektronische Abbiegeassistenzsysteme für neue Bus- und Lkw-typen verpflichtend. Außerdem wurde zum Schutz von Radfahrern die Straßenverkehrsordnung geändert und Mindestüberholabstände und Schrittgeschwindigkeit beim Rechtsabbiegen von Lkw eingeführt.
Doch da ist noch Luft nach oben, sind sich Experten einig. So hat sich die Ampel-koalition etwa dazu verpflichtet, die Straßenverkehrsordnung einer Prüfung zu unterziehen. Konkrete Schritte, wie dabei auch die Sicherheit von schwächeren Verkehrsteilnehmern erhöht werden kann, gibt es bisher aber nicht. Bundesverkehrsminister Wissing wollte die Reform des Straßenverkehrsgesetzes bereits im vergangenen Herbst bei einer der Verkehrsministerkonferenzen ausrufen, doch er kam nicht zum Zug. Der Grund: Es wurde vornehmlich über das Thema 9-Euro-ticket für den öffentlichen Nahverkehr und dessen Nachfolger Deutschlandticket debattiert.
Dabei ist der Bedarf an Reformen groß. Eine Initiative von über 380 Städten und Kommunen fordert von der Bundesregierung das Recht ein, nach eigenem Ermessen ein flächendeckendes Tempo 30 innerorts anordnen zu können. Dies würde die Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer erhöhen. Unterstützung bekommt die Initiative vom Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy. Er fordert von Verkehrsminister Wissing, das Verkehrsrecht entsprechend zu ändern: „Wir brauchen mehr Handlungsfreiheit vor Ort, zum Beispiel für sichere Schulwege für unsere Kinder.“Wissing ist gegen eine Änderung und argumentiert damit, dass Städte vor Schulen, Kindergärten oder Altersheimen bereits jetzt Tempo30-zonen einrichten könnten. Das stimmt. Allerdings ist der Verwaltungsaufwand dafür immens, zweitens sind die Vorgaben für Tempo-30-zonen eng gefasst.
Doch nicht nur das Recht muss an eine sich immer mehr ändernde Mobilitätswelt angepasst werden. Es bedarf auch eines Kulturwandels: „Der Radfahrunfall hat sehr viel mit Verkehrskultur zu tun. Mit fehlender Empathie und Rücksichtnahme auf andere“, sagt Brockmann. „Wir sollten allesamt in uns gehen und darüber nachdenken, dass unser Handeln dazu führen kann, andere Menschen zu verletzen.“Sicherheit von Radfahrern sei davon abhängig, dass man Verständnis für sie aufbringe. Er sieht Radfahrlobbys wie den ADFC in der Verantwortung, die Wogen zu glätten: „Es bringt nichts, wenn alle einfach in ihren sprichwörtlichen Schützengräben hocken bleiben.“