Es geht um alles
Das Land steht vor dem vielleicht wichtigsten Urnengang aller Zeiten. Erstmals seit über 20 Jahren könnte Präsident Erdogan eine Wahl verlieren. Aber die Opposition tut sich schwer, seine Schwäche auszunutzen.
Lange wurde gerätselt, jetzt scheint der Termin der diesjährigen Parlaments- und Präsidentenwahl festzustehen. In einer Rede vor seiner Regierungsfraktion nannte Staatschef Recep Tayyip Erdogan den 14. Mai für den Urnengang. Ein beziehungsreiches Datum: An jenem Tag triumphierte im Jahr 1950 der konservativ-islamische Adnan Menderes über die Republikanische Volkspartei (CHP), die auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückging und seit 1923 eine Art politisches Monopol hatte. Erdogan wiederholte nun Menderes berühmte Wahlparole: „Genug, jetzt hat das Volk das Wort!“
Die Wahl wird zu einer Weichenstellung: Bestätigen die Wählerinnen und Wähler den 69-jährigen Erdogan für weitere fünf Jahre im Amt, könnte er seine zunehmend autoritäre Herrschaft zementieren und seine Machtfülle weiter ausbauen. Die Türkei würde sich vermutlich noch weiter vom Westen entfernen und könnte zur Diktatur degenerieren. Verliert Erdogan, wollen die heutigen Oppositionsparteien das ganz auf ihn zugeschnittene Präsidialsystem abschaffen, zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren und die unter Erdogan geschleiften demokratischen Institutionen wieder stärken.
Auch in der EU und der Nato wird die bevorstehende Wahl aufmerksam beobachtet. Dort hat Erdogan wegen seiner Sonderwege nicht viele Freunde: Der türkische Staatschef unterläuft die Russland-sanktionen des Westens, blockiert die Nato-norderweiterung und droht dem Nachbarn Griechenland mit Krieg. Erdogan-kritiker im Westen hoffen, dass mit einem Machtwechsel in Ankara die türkische Außenpolitik wieder berechenbarer wird.
Seit 20 Jahren bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei, erst als Regierungschef, seit 2014 als Präsident. Er hat in diesen zwei Jahrzehnten sechs Parlamentswahlen, drei Volksabstimmungen und zwei Präsidentenwahlen gewonnen. Aber jetzt spürt er Gegenwind. In einer Umfrage des Instituts ORC von Anfang Januar liegt Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP nur noch bei 32 Prozent, nach 42,6 Prozent bei der Wahl 2018. Auch bei der gleichzeitig stattfindenden Präsidentenwahl muss Erdogan um seine Mehrheit fürchten.
Viele Oppositionelle sehen bereits das Ende der Ära Erdogan heraufziehen. Doch das könnte Wunschdenken sein. Erdogan wurde schon oft politisch totgesagt. Aber er hat sich immer wieder behauptet. 2007 entging seine islamischkonservative AKP knapp einem Verbot durch das Verfassungsgericht. Die Militärs, die sich seit Gründung der Republik als Wächter über Atatürks säkulare Staatsordnung sahen, hat er entmachtet. Die landesweiten Massenproteste vom Frühjahr 2013 überstand Erdogan ebenso wie die wenige Monate später aufgekommenen Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Familie. Der Putschversuch vom Juli 2016 verschaffte ihm den Vorwand, Zehntausende politische Gegner wegzusperren und seine Macht zu festigen.
Kämpfer aus dem Hafenviertel
Kämpfen, das hat er gelernt im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, wo er als Sohn eines Seemanns aufwuchs. Hier setzt man sich nicht mit Argumenten durch, sondern mit Ellenbogen und Fäusten. Wie sehr ihn seine Herkunft geprägt hat, zeigt sich, wenn er heute friedliche Demonstranten als „Ungeziefer“demütigt oder einer kritischen Pop-sängerin droht, man werde ihr „die Zunge herausreißen“.
Aber jetzt schwächelt Erdogan. Die schlechten Noten in den Meinungsumfragen sind der schwierigen Wirtschaftslage geschuldet. Die Inflation, die im Oktober mit 85,5 Prozent ein 24-Jahres-hoch erreichte, zehrt an den Einkommen und treibt immer mehr Menschen in die Armut. Im Dezember fiel die Rate zwar auf 64,3 Prozent. Aber die offiziellen Zahlen sind möglicherweise geschönt. Die unabhängige Forschungsgruppe Enag beziffert die tatsächliche Teuerung auf knapp 83 Prozent.
Dabei war die Wirtschaft früher Erdogans Trumpfkarte. Im ersten Jahrzehnt seiner Regierungszeit wuchs die türkische Wirtschaft jährlich um durchschnittlich rund sieben Prozent. Zwischen 2002 und 2012 verdreifachte sich das statistische Pro-kopf-einkommen von 3700 auf 11 800 Dollar. Für das Jahr 2023 versprach Erdogan vor zehn Jahren einen Anstieg auf 25 000 Dollar. Tatsächlich beläuft sich das Pro-kopf-einkommen aktuell auf weniger als 10 000 Dollar. In den 2000er Jahren galt Erdogan als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. Jetzt ist die Ökonomie zu seiner Achillesferse geworden.
Aber die Opposition tut sich schwer, Erdogans Schwächen für sich zu nutzen. Sechs Oppositionsparteien haben sich zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen. Mit vereinten Kräften wollen sie Erdogan besiegen. Doch bisher hat sich der „Tisch der Sechs“, wie sich die Allianz nennt, nicht mal auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können. Unterdessen zieht Erdogan im Wahlkampf alle Register: Er erhöht die Bezüge der Staatsbediensteten um 30 Prozent und den Mindestlohn um 55 Prozent, verspricht mit dem Programm „Mein neues Zuhause“subventionierte Wohnungsbaukredite, stellt überschuldeten Familien einen Schuldenerlass in Aussicht und beglückt Millionen Menschen mit einer Rentenreform: Künftig können die Türkinnen und Türken schon nach rund 23 Jahren Arbeit in Pension gehen, also mit Anfang 40. Viele regierungsunabhängige Ökonomen halten das Rentenpaket für unbezahlbar, zumal die Bevölkerung in der Türkei nicht mehr so schnell wächst wie früher. Aber für den Stimmenfang taugt der Rentenknüller allemal.
Zugleich präsentiert sich Erdogan mit polternden Auftritten auf der internationalen Bühne seinen Anhängern als furchtloser Anführer. Dem Nachbarn Griechenland droht er nicht nur mit der Eroberung von Ägäisinseln wie Rhodos, Kos und Lesbos, sondern neuerdings auch mit Raketenangriffen auf die Hauptstadt Athen. Die Nato treibt er mit der Stationierung russischer Flugabwehrraketen und seinem Veto gegen die Norderweiterung des Bündnisses vor sich her. So wirbt Erdogan um die Stimmen nationalistischer Wählerinnen und Wähler.
Die Opposition hat dem wenig entgegenzusetzen. Eine Entscheidung zu einem gemeinsamen Kandidaten wird aber erst Mitte Februar erwartet. Die Beratungen sind schwierig, denn der Sechsertisch
ist eine sehr heterogene Versammlung. Das Spektrum reicht von der islamisch-fundamentalistischen Glückseligkeitspartei über die bürgerlichkemalistische CHP bis zur rechtsnationalistischen Iyi-partei. Auch zwei abtrünnige Erdogan-weggefährten sind mit neu gegründeten Mini-parteien dabei, der Ex-premier Ahmet Davutoglu und der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan.
Die Sechs sind zwar geeint in ihrem Ziel, Erdogan abzulösen und das Präsidialsystem abzuschaffen. Aber ein geschlossenes politisches Programm haben sie bisher nicht vorgelegt. Überdies hat es die Opposition schwer, sich Gehör zu verschaffen. Mehr als 90 Prozent der Medien sind in der Hand regierungsnaher Unternehmer. Ein kürzlich verabschiedetes Maulkorbgesetz bedroht die Verbreitung von „Fake News“mit langjährigen Haftstrafen. Vor allem nach dem Putschversuch von 2016 hat Erdogan den Druck auf die Medien erhöht. Hunderte Publikationen und Verlagshäuser wurden geschlossen. Zehntausende Oppositionelle und Bürgerrechtler sitzen hinter Gittern oder leben inzwischen im Ausland. Erst vor wenigen Tagen setzte das Innenministerium Belohnungen auf die Ergreifung prominenter Erdogan-kritiker aus.
Seit den „Säuberungen“nach dem Putschversuch gibt es wachsende Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz. Im Dezember verhängte ein Gericht wegen Beamtenbeleidigung ein Politikverbot gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, einen möglichen und aussichtsreichen Oppositionskandidaten bei der Präsidentenwahl. Wird das Urteil rechtskräftig, kann Imamoglu nicht antreten. Gegen die prokurdische Partei HDP, drittstärkste Kraft im Parlament, läuft ein Verbotsverfahren.
Erdogan dürfte alles daransetzen, diese Wahl zu gewinnen. Denn wenn er sie verliert, droht nicht nur der Verlust der Macht. Dann könnten auch die Korruptionsaffären und Bereicherungsvorwürfe aus früheren Jahren wieder auf die Tagesordnung kommen. Manche Oppositionelle fragen sich deshalb besorgt, ob Erdogan eine Wahlniederlage überhaupt akzeptieren würde.
Er galt als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. Jetzt ist die Ökonomie seine Achillesferse geworden.