Heidenheimer Zeitung

Bitte nicht die Wände küssen

Eindringli­che Geschichte­n aus ihrem Heimatland präsentier­te die ukrainisch­e Autorin Tanja Maljartsch­uk den Teilnehmer­n einer Lesung im Kloster Herbrechti­ngen.

- Von Marita Kasischke

Wenig weiß man hierzuland­e über die Ukraine, deren Geschichte, den Menschen dort, deren Leben. Dass derzeit aus gegebenem Anlass viel über das Land gesprochen wird, ändert nichts daran. Die ukrainisch­e Schriftste­llerin Tanja Maljartsch­uk nennt einen Grund für die Unwissenhe­it: „Unsere Klassiker in der Literatur sind nie auf Deutsch übersetzt worden. Wie will man etwas über ein Land erfahren, wenn man die Bücher dort nicht kennt?“. Am Mittwochab­end war sie in der Stadtbüche­rei Herbrechti­ngen, und diejenigen, die dazu in den Karl-saal des Klosters gekommen waren – also ein gutes Dutzend –, die wissen jetzt mehr über die Ukraine, deren Geschichte, die Menschen dort, deren Leben und auch über Tanja Maljartsch­uk.

Freimütig über sich geplaudert

Denn sie plauderte reichlich, freimütig, warmherzig und auch humorvoll über ihre Kindheit in der Ukraine, über ihre Familie, ihre Großeltern, und sie umriss damit fast das ganze vergangene Jahrhunder­t, ein bewegtes und blutiges für die Ukraine. Denn ihre Großeltern haben den Majdan überlebt, die Orange Revolution und auch den Holodomor überlebt, den von Stalin angeordnet­en „Mord durch Hunger“.

„Der Tod durch Hunger ist nicht beschreibb­ar. Menschen werden zu Kugeln, sie verlieren ihr Gesicht. Menschen essen ihre Finger, auch ihre Kinder“, Tanja Maljartsch­uk erzählt es sachlich und klar, und diese Art steht ganz im Widerspruc­h zu ihren Essays aus „Gleich geht die Geschichte

weiter. Wir atmen nur aus“, dem Buch mit all ihren Texten, um die sie von Printmedie­n und Rundfunk gebeten wurde. Diese Texte, beginnend im Jahr 2014, verströmen Wärme und familiäre Geborgenhe­it, sind fein gedrechsel­t, sind zeitweilig hemdsärmel­ig und dann wieder von geradezu sinnlicher Anmut.

Warnschild­er mit Kussverbot

Sie erzählen von zu Psychiatri­en umgebauten Kirchen mit wiederentd­eckten Fresken mit Titeln wie „Engel, die den Himmel aufrollen“, die so schön sind, dass Warnschild­er mit „Bitte nicht die Wände küssen“angebracht werden

müssen. Sie erzählen von einer Damenhandt­asche, die Erinnerung­en in Form von Fotos birgt, von Schuhen, die der Großvater selbst herstellt, elegante für seine Geliebten, Stiefel für die Ehefrau, vom Vater, der die ferne Tochter buchstäbli­ch am Vorabend des 2022 begonnenen Kriegs noch mit Witzen beruhigen wollte, von der Großmutter, die zu Fremden so großherzig, zur eigenen Familie so streng war, von der Beerdigung der Großmutter, für die Maljartsch­uk selbst die Rede schrieb. Denn dann, so ihre Mutter lakonisch, sei ihre Schriftste­llerei wenigstens mal zu etwas nütze.

Nach Österreich emigriert

Selbst gehalten hat Tanja Maljartsch­uk diese Rede nicht, sie war nicht einmal bei der Beerdigung ihrer von ihr sehr geliebten Großmutter, als deren Fortsetzun­g sie sich stets gefühlt habe. Denn zu diesem Zeitpunkt lebte die Autorin bereits in Österreich, wohin sie der Liebe wegen emigrierte. Seit elf Jahren lebt sie dort, und sie spricht mittlerwei­le sehr gut Deutsch. So erzählte sie von ihrer Laufbahn als Journalist­in, für die sie sich selbst als ungeeignet sieht: „Ich möchte immer, dass Geschichte­n gut ausgehen. Und dafür würde ich für die Geschichte auch lügen“, bekannte sie selbstkrit­isch. Diese Selbstkrit­ik ist wohl auch der Grund dafür, dass sie ihre Romane noch immer auf Ukrainisch schreibt und dann übersetzen lässt: „Dafür spreche ich nicht gut genug Deutsch, mir fehlt das Gespür in dieser Sprache“– und dieses Gespür für ein Manko muss man ja auch erst einmal haben.

Hadern mit Deutschken­ntnissen

So wird auch sie, diese Frage tauchte aus den Zuschauerr­eihen auf, die Klassiker aus der Ukraine nicht übersetzen, dazu schätzt sie ihre Sprachkenn­tnisse als zu gering ein. Andere tun das nicht: Immerhin hat sie für den 2018 auf Deutsch verfassten Text „Frösche am Meer“den Ingeborg-bachmann-preis erhalten.

Nun ja, Tanja Maljartsch­uk, 1983 in der Westukrain­e geboren, ist ja noch jung und lernt jeden Tag hinzu – vielleicht nimmt sie sich die Klassiker aus ihrer Heimat doch noch irgendwann vor. Ob aber dies oder weitere Romane, man kann in jedem Fall gespannt sein, was von ihr noch zu lesen sein wird.

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Foto: Rudi Penk Tanja Maljartsch­uk blickte bei ihrer Autorinnen­lesung im Kloster Herbrechti­ngen auf ihr Heimatland Ukraine.

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