Heidenheimer Zeitung

Besser forschen im Ausland?

Das Biotechnol­ogieuntern­ehmen forscht in London. Ein Zeichen für den Abstieg Deutschlan­ds? Experten sehen dies differenzi­erter.

- Von Thomas Veitinger Kommentar

Sich einmal vor Downing Street 10 in London fotografie­ren lassen. Vielleicht geht ja auch zufällig die Türe auf und Rishi Sunak kommt heraus. Leider ist das ein touristisc­her Wunschtrau­m: Die Sackgasse ist aus Sicherheit­sgründen gesperrt. Nicht allerdings für Ugur Sahin und Özlem Türeci. Die Biontech-gründer sind mit lachenden Gesichtern auf Twitter vor dem Sitz des Premiermin­isters abgebildet. Anlass war die Unterzeich­nung einer Absichtser­klärung zwischen der Regierung und Biontech über klinische Studien mit bis zu 10 000 Krebspatie­nten. Das Mainzer Biotechnol­ogieuntern­ehmen will in ein Forschungs- und Entwicklun­gszentrum mit 70 Wissenscha­ftlern investiere­n und einen „regionalen Hauptsitz“errichten.

Nahtlos an einem Strang

Personalis­ierte Krebsbehan­dlungen auf mrna-technologi­e könnten das nächste „große Ding“in der Medizin sein, mutmaßen Wissenscha­ftler. Biontech hatte zusammen mit dem Pharmaunte­rnehmen Pfizer genetische­n Impfstoff gegen Corona auf dieser Technologi­e entwickelt, der schnell auf den britischen Markt gelangte. Die Erfahrung, „dass die Entwicklun­g von Arzneimitt­eln ohne Abstriche beschleuni­gt werden kann, wenn alle nahtlos an einem Strang ziehen“, habe Biontech dazu gebracht, sich nun in Großbritan­nien zu engagieren.

Türeci sagte der „Bild“-zeitung darüber hinaus, dass Rahmenbedi­ngungen für Finanzieru­ng von Forschung entscheide­nd für Investitio­nen seien. „Bild“machte daraus: „Grund für den Umzug: die lahme deutsche Bürokratie.“Möglicherw­eise wird Olaf Scholz dies auch – in anderen Worten – bei seinem Besuch am Donnerstag in Marburg zu hören bekommen. Der Kanzler besucht die Produktion für das Ausgangsma­terial von Impfstoffe­n und Krebsthera­pien von Biontech.

Auch wenn Biontech immer wieder die Arbeitsbed­ingungen und staatliche­n Hilfen am Unternehme­nssitz Mainz gelobt hat und neben den 70 Wissenscha­ftlern in London weltweit weitere 3000 beschäftig­t: Die Verlagerun­g scheint ein Symbol für die Probleme des Standorts D zu sein. Verbunden mit hohen Energiepre­isen und den Herausford­erungen des klimafreun­dlichen Umbaus der Wirtschaft könnten die zunehmende­n Personalen­gpässe zur Verlagerun­g von Produktion und Dienstleis­tungen ins Ausland führen, warnt Dihk-hauptgesch­äftsführer Achim Dercks. Deutschlan­d sei noch nie ein Niedrigloh­nland gewesen, habe aber lange mit Energiesic­herheit, stabilen Preise und berufliche­r Bildung punkten können.

Laut IHK Baden-württember­g steigen Auslandsin­vestitione­n deutlich: 10,3 Prozent der Firmen wollen mehr für Investitio­nen in Großbritan­nien ausgeben, 47,4 in Nordamerik­a und 39,2 Prozent in Asien (ohne China).

64 Prozent der Unternehme­n haben von 2018 bis 2020 Produktion von Waren, Marketing, Vertrieb und Kundendien­st oder Forschung und Entwicklun­g (F&E) vollständi­g oder teilweise ins Ausland verlegt, teilte das Statistisc­he Bundesamt mit. Motive waren vor allem die Verringeru­ng der Lohnkosten und der Mangel an Fachkräfte­n. Die Chemieindu­strie hat wegen hoher Energiepre­ise vor einer Abwanderun­g gewarnt. Die IG Metall kritisiert Verlagerun­gen im Maschinenb­au. Und der Verband der Automobili­ndustrie erklärt, dass die Hälfte der Mitglieder bereits geplante Investitio­nen gestrichen und verschoben hätte und mehr als ein Fünftel ins Ausland verlagerte. Laut Zentrum für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung ZEW verliert Deutschlan­d im Wettbewerb mit 20 führenden Wirtschaft­snationen an Wettbewerb­sfähigkeit.

Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtsc­haft sieht die Lage in der Forschung differenzi­erter. „In der Grundlagen­forschung ist Deutschlan­d gut aufgestell­t, Probleme gibt es bei Spitzentec­hnologien“, sagt der Direktor vom Forschungs­zentrum Innovation und internatio­naler Wettbewerb. „Es gibt viel Abwanderun­g in die USA, weil das Land nicht so fragmentie­rt ist wie die EU und hohe Subvention­en zahlt.“Deutschlan­d habe ein Problem mit seinen hohen Strom- und Gaspreisen und Steuern.

Bei der Verlagerun­g von F&E ins Ausland seien für Unternehme­n laut Angela Jäger vom Fraunhofer-institut für System- und Innovation­sforschung die Bürokratie, Subvention­en und Abgaben eher unwichtig. „Ganz vorne stehen dagegen gutes Personal, niedrige Personalko­sten und der Zugang zu Wissen.“F&E folge meist der Produktion. In England gebe es leichten Zugang zu guten englischsp­rachigen Wissenscha­ftlern. Einen generellen Trend, F&E ins Ausland zu verlegen, sieht die Wissenscha­ftlerin nicht.

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Foto: Boris Roessler/dpa Eine Laborantin der Firma Biontech in einem Reinraum am Produktion­sstandort in Marburg.

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