Besser forschen im Ausland?
Das Biotechnologieunternehmen forscht in London. Ein Zeichen für den Abstieg Deutschlands? Experten sehen dies differenzierter.
Sich einmal vor Downing Street 10 in London fotografieren lassen. Vielleicht geht ja auch zufällig die Türe auf und Rishi Sunak kommt heraus. Leider ist das ein touristischer Wunschtraum: Die Sackgasse ist aus Sicherheitsgründen gesperrt. Nicht allerdings für Ugur Sahin und Özlem Türeci. Die Biontech-gründer sind mit lachenden Gesichtern auf Twitter vor dem Sitz des Premierministers abgebildet. Anlass war die Unterzeichnung einer Absichtserklärung zwischen der Regierung und Biontech über klinische Studien mit bis zu 10 000 Krebspatienten. Das Mainzer Biotechnologieunternehmen will in ein Forschungs- und Entwicklungszentrum mit 70 Wissenschaftlern investieren und einen „regionalen Hauptsitz“errichten.
Nahtlos an einem Strang
Personalisierte Krebsbehandlungen auf mrna-technologie könnten das nächste „große Ding“in der Medizin sein, mutmaßen Wissenschaftler. Biontech hatte zusammen mit dem Pharmaunternehmen Pfizer genetischen Impfstoff gegen Corona auf dieser Technologie entwickelt, der schnell auf den britischen Markt gelangte. Die Erfahrung, „dass die Entwicklung von Arzneimitteln ohne Abstriche beschleunigt werden kann, wenn alle nahtlos an einem Strang ziehen“, habe Biontech dazu gebracht, sich nun in Großbritannien zu engagieren.
Türeci sagte der „Bild“-zeitung darüber hinaus, dass Rahmenbedingungen für Finanzierung von Forschung entscheidend für Investitionen seien. „Bild“machte daraus: „Grund für den Umzug: die lahme deutsche Bürokratie.“Möglicherweise wird Olaf Scholz dies auch – in anderen Worten – bei seinem Besuch am Donnerstag in Marburg zu hören bekommen. Der Kanzler besucht die Produktion für das Ausgangsmaterial von Impfstoffen und Krebstherapien von Biontech.
Auch wenn Biontech immer wieder die Arbeitsbedingungen und staatlichen Hilfen am Unternehmenssitz Mainz gelobt hat und neben den 70 Wissenschaftlern in London weltweit weitere 3000 beschäftigt: Die Verlagerung scheint ein Symbol für die Probleme des Standorts D zu sein. Verbunden mit hohen Energiepreisen und den Herausforderungen des klimafreundlichen Umbaus der Wirtschaft könnten die zunehmenden Personalengpässe zur Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen ins Ausland führen, warnt Dihk-hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Deutschland sei noch nie ein Niedriglohnland gewesen, habe aber lange mit Energiesicherheit, stabilen Preise und beruflicher Bildung punkten können.
Laut IHK Baden-württemberg steigen Auslandsinvestitionen deutlich: 10,3 Prozent der Firmen wollen mehr für Investitionen in Großbritannien ausgeben, 47,4 in Nordamerika und 39,2 Prozent in Asien (ohne China).
64 Prozent der Unternehmen haben von 2018 bis 2020 Produktion von Waren, Marketing, Vertrieb und Kundendienst oder Forschung und Entwicklung (F&E) vollständig oder teilweise ins Ausland verlegt, teilte das Statistische Bundesamt mit. Motive waren vor allem die Verringerung der Lohnkosten und der Mangel an Fachkräften. Die Chemieindustrie hat wegen hoher Energiepreise vor einer Abwanderung gewarnt. Die IG Metall kritisiert Verlagerungen im Maschinenbau. Und der Verband der Automobilindustrie erklärt, dass die Hälfte der Mitglieder bereits geplante Investitionen gestrichen und verschoben hätte und mehr als ein Fünftel ins Ausland verlagerte. Laut Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW verliert Deutschland im Wettbewerb mit 20 führenden Wirtschaftsnationen an Wettbewerbsfähigkeit.
Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtschaft sieht die Lage in der Forschung differenzierter. „In der Grundlagenforschung ist Deutschland gut aufgestellt, Probleme gibt es bei Spitzentechnologien“, sagt der Direktor vom Forschungszentrum Innovation und internationaler Wettbewerb. „Es gibt viel Abwanderung in die USA, weil das Land nicht so fragmentiert ist wie die EU und hohe Subventionen zahlt.“Deutschland habe ein Problem mit seinen hohen Strom- und Gaspreisen und Steuern.
Bei der Verlagerung von F&E ins Ausland seien für Unternehmen laut Angela Jäger vom Fraunhofer-institut für System- und Innovationsforschung die Bürokratie, Subventionen und Abgaben eher unwichtig. „Ganz vorne stehen dagegen gutes Personal, niedrige Personalkosten und der Zugang zu Wissen.“F&E folge meist der Produktion. In England gebe es leichten Zugang zu guten englischsprachigen Wissenschaftlern. Einen generellen Trend, F&E ins Ausland zu verlegen, sieht die Wissenschaftlerin nicht.