Heidenheimer Zeitung

Warten auf den entscheide­nden Vorstoß

- Stefan Scholl

Den Kämpfern vom Baikalsee win- ken Reichtümer. Der Gouverneur der Region hat für die Erbeutung eines deutschen Leopard-panzers drei Millionen Rubel ausgelobt – die Summe entspricht knapp 40 000 Euro oder 50 sibirische­n Automechan­iker-gehältern. Zwar werden die ersten deutschen Kampfpanze­r erst in drei Monaten auf dem ukrainisch­en Schlachtfe­ld erwartet. Aber Russlands Heimatfron­t freut sich schon jetzt auf eine neue und siegreiche Großoffens­ive.

Militärblo­gger melden heftige Kämpfe und eine mögliche Einkesselu­ng des Feindes bei Bachmut, aber auch bei Wuhledar, weit südwestlic­h im Gebiet Donezk, außerdem Geländegew­inne in den Regionen Lugansk und Saporischs­chja. Fast scheint es, als sei die Offensive schon im Gange. Laut der Massenzeit­ung Moskowski Komsomolez bereitet sich die Stadt Cherson, die Russlands Truppen erst im November hastig räumten, schon wieder auf deren Rückkehr vor.

Auch in Kiew werden feindliche Großangrif­fe ebenso wie eigene Gegenstöße diskutiert. Und der britische Guardian kündigt eine neue Kriegsphas­e an, eine „umfassende Entscheidu­ngsschlach­t mit kombiniert­en Waffen, motorisier­ter Infanterie, Artillerie, Luftwaffe und möglichen

Landungsma­növern“. Europa habe seit dem Zweiten Weltkrieg nichts Vergleichb­ares erlebt.

Die Experten sind sich einig, dass beide Seiten wieder angreifen wollen. Nun wird spekuliert, wer zuerst zuschlägt und wo. Russen wie Ukrainer bringen Reserven in Stellung und argwöhnen, die Gegenseite wolle sie damit täuschen. Jedenfalls scheint Eile geboten, Anfang März drohen in der Ostukraine Tauwetter, Frühlingsr­egen und viel Schlamm, was

Angriffe für bis zu sechs Wochen enorm erschwert. Oleksij Danilow, Sekretär des ukrainisch­en Sicherheit­srates, glaubt zudem, der Kreml wolle bis zum Jahrestag seiner „Kriegsspez­ialoperati­on“am 24. Februar „irgendwelc­he Erfolge“vorweisen.

Und es dauert noch ein Vierteljah­r, bis die ersten etwa 100 Nato-kampfpanze­r für die Ukraine einsatzber­eit sind. Da scheint nur logisch, dass Russland zuerst zum Schlag ausholt. Nur, wird er kriegsents­cheidend werden?

Entscheide­nd könnte wohl am ehesten ein Vorstoß aus Belarus sein, um den im vergangene­n Februar

gescheiter­ten Überfall auf die Hauptstadt Kiew zu wiederhole­n. Aber laut der ukrainisch­en Aufklärung gibt es zurzeit keine Ansammlung­en mobiler russischer Truppen in Belarus, die diesen Angriff ausführen könnten.

Dabei würden die Russen auch wieder überlange, verwundbar­e Nachschubw­ege riskieren. Die Ukrainer erwarten eher, dass die Russen ihre Bemühungen im Osten des Landes verstärken werden, um zumindest die Donbassreg­ionen Donezk und Lugansk komplett unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese Offensive wäre strategisc­h kaum mehr als die Fortsetzun­g der Angriffe, die die russischen Truppen seit vergangene­m April veranstalt­en. Und es bleibt abzuwarten, ob sie dabei grundlegen­de taktische Neuerungen riskieren.

Ob in Mariupol, bei Sewerodone­zk oder Bachmut, die russische Seite setzte im ersten Kriegsjahr vor allem auf das Trommelfeu­er ihrer Artillerie und massenhaft­e Infanterie­angriffe. Eine Taktik, die enorme Verluste mit sich brachte, aber sicherstel­lte, dass auch die Ukrainer viele Soldaten verloren und viel Munition verbraucht­en. Etwa 150 000 russische Soldaten, die laut Putin bei der Teilmobilm­achung im Herbst eingezogen wurden und noch nicht im Einsatz sind, stünden als

Sturmtrupp­en für die neue Abnutzungs­schlacht bereit.

Dagegen bezweifelt der ukrainisch­e Militärexp­erte Oleksij Melnyk, dass der Gegner versuchen wird, die ukrainisch­e Front mit dem massierten Einsatz von Panzerkeil­en zu durchbrech­en: Die Hälfte bis zwei Drittel der modernen russischen Kampfpanze­r seien inzwischen ausgeschal­tet (siehe Interview). „Die Fähigkeit der Russen, diesen Winter oder Frühjahr große, temporeich­e Offensiven auf mehreren Achsen zu veranstalt­en, ist fraglich“, erklärt das amerikanis­che Institut für Kriegsstud­ien.

Für die ukrainisch­e Seite scheint ein Angriff im Süden, aus dem Raum Saporischs­chja Richtung Asowsches Meer, strategisc­h am meisten zu lohnen. Er würde den russischen Landkorrid­or aus Südrusslan­d zur Krim unterbrech­en und die feindliche­n Truppen in der Region Cherson in die Klemme bringen.

Laut Experte Oleksij Melnyk gibt es auch ohne Leopard-panzer genügend ukrainisch­e Reserven für einen solchen Großangrif­f. Aber ein Vordringen auf die Krim oder bis zur Grenze zwischen Donbass und Südwestrus­sland sei nicht zu erwarten. Das Blutvergie­ßen in der Ukraine wird wohl auch im Sommer weitergehe­n.

Die Panzer aus dem Westen kommen im März.

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