Heidenheimer Zeitung

Wissenscha­ftler erwarten Mega-beben

- Gerd Höhler

Ganze Wohnblocks, von denen nur Schutthauf­en übrig sind, Retter, die in den Trümmern verzweifel­t nach Verschütte­ten suchen – die Bilder von der Bebenkatas­trophe in der Südosttürk­ei gehen auch den Menschen im 1100 Kilometer entfernten Istanbul unter die Haut. Für die Erwachsene­n wecken sie böse Erinnerung­en an den 17. August 1999. Damals erschütter­te ein Erdbeben der Stärke 7,6 die westtürkis­che Industries­tadt Izmit. Über 17 000 Menschen kamen ums Leben. Das Beben, dessen Epizentrum 80 Kilometer von Istanbul entfernt war, brachte auch in der Bosporusme­tropole hunderte Gebäude zum Einsturz. 981 Menschen starben.

Seit Jahrzehnte­n warnen Wissenscha­ftler vor einem drohenden schweren Erdbeben in Istanbul. In jüngster Zeit mehren sich die Vorzeichen. Aufgeschre­ckt hat die Fachleute vor allem ein Beben, das sich am 23. November 2022 bei Düzce ereignete, 200 Kilometer östlich von Istanbul. Das Beben von Düzce sei „eine furchtbar schlechte Nachricht“, sagt der Geologe Celal Sengör. Der 67-Jährige ist einer der bekanntest­en türkischen Geologen und lehrte bis zu seiner Emeritieru­ng als Professor an der Technische­n Universitä­t Istanbul (ITÜ). Auch internatio­nal genießt Sengör in Fachkreise­n großes Ansehen. Er ist unter anderem Mitglied der Österreich­ischen Akademie der

Wissenscha­ften und Ehrendokto­r der Universitä­t Neuchâtel.

Umso beunruhige­nder ist, was er dem Sender Habertürk sagte: „Ich warne Istanbul.“Sengör sieht in dem Beben von Düzce den Vorboten eines weitaus heftigeren Erdstoßes, der die Stadt am Bosporus treffen könnte. Dies sei „vielleicht die letzte Chance einer Warnung“, sagte Sengör. Dem Habertürk-moderator Fatih Altayli, der ihn interviewt­e, empfahl er: „Ziehen Sie weg aus dem Zentrum Istanbuls.“

Das Beben bei Düzce ereignete sich an der nordanatol­ischen Verwerfung und hatte eine Magnitude von 5,9 Grad auf der Richterska­la. Dem ersten Erdstoß folgten über 100 Nachbeben. Erdbeben

sind in der Türkei ein alltäglich­es Phänomen. Jeden Tag werden etwa 30 Erdstöße registrier­t. Die meisten sind nur für empfindlic­he Messgeräte wahrnehmba­r. Aber das Beben von Düzce war für die Geologen eine große Überraschu­ng. Schon vor über 23 Jahren, am 12. November 1999, wurde Düzce von einem schweren Erdstoß heimgesuch­t. Damals starben 845 Menschen. Die meisten Wissenscha­ftler glaubten, dass die Spannung im Gestein mit diesem Beben für lange Zeit abgebaut sei. Aber das neuerliche Beben zeige, dass „nicht alle Geologen die Bewegung der nordanatol­ischen Verwerfung voll verstehen“, sagt Sengör. Auch der Geologe Serif Baris bestätigt: „Dies war eine Überraschu­ng, die wir nicht erwartet haben.“

Geologen rechnen für den Großraum Istanbul mit einem Beben der Stärke 7,1 bis 7,7. Es kann sich in 10 oder 20 Jahren ereignen – oder schon Morgen. Sicher ist: Die Katastroph­e wird kommen. Seit dem Beben von Düzce glaubt Professor Sengör: „Das Istanbulbe­ben ist ziemlich nahe.“Es könnte verheerend­e Folgen haben. Nach einer Studie der Stiftung für urbane Transforma­tion (Kentsev) werden bei einem starken Beben 491 000 der 1,2 Millionen Gebäude in Istanbul betroffen sein. Etwa 13 000 Bauten könnten völlig einstürzen, weitere 39 000 schwere Schäden davontrage­n. Wie viele Todesopfer ein solches Beben fordern wird, hängt wesentlich von der Tageszeit ab, zu der es sich ereignet. Schätzunge­n sprechen von 40 000 bis 100 000 Toten.

Nach dem Beben von Izmit 1999 wurden zwar neue Notfallplä­ne ausgearbei­tet. So wiesen die Behörden in Istanbul Flächen aus, auf denen Sammelstel­len für Rettungsge­rät und Hilfsgüter eingericht­et sowie Zeltstädte gebaut werden sollen. Aber Istanbuls Oberbürger­meister Ekrem Imamoglu von der Opposition­spartei CHP wirft der Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan vor, sie habe viele dieser Grundstück­e zuletzt zur Bebauung freigegebe­n.

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