Heidenheimer Zeitung

„Wir waren bisher immer übervorsic­htig“

Die Ukraine brauche Kampfflugz­euge und Hubschraub­er, sagt der ehemalige Us-general und CIA-CHEF. Ein Gespräch über das Versagen der russischen Militärfüh­rung, das Risiko eines Atomschlag­s und mögliche Szenarien für ein Ende des Krieges.

- Von Jan Dirk Herbermann

Fast vier Jahrzehnte im Us-militär haben David Petraeus geprägt. Sein Auftreten hat noch immer etwas von dem Viersterne-general, der er war. Das Haar ist korrekt gescheitel­t. Der Anzug sitzt perfekt. Die Krawatte ist akkurat gebunden. Er äußert sich kurz und knapp. Floskeln oder Füllwörter finden sich in seinem Vokabular nicht. Wer Petraeus zuhört oder eine Internetko­mmunikatio­n mit ihm beginnt, merkt schnell, dass dieser Mann es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Und dass er die zügige Ausführung seiner Anweisunge­n erwartet. Auf die elektronis­ch übermittel­te Frage an Petraeus, ob er für ein Interview über ein Jahr Krieg in der Ukraine bereitstün­de, fällt die Antwort im Telegramm-stil aus: „Sure, can you do it via email, Jan Dirk?“Das Interview mit dem hochdekori­erten General und ehemaligen Cia-direktor steht.

General Petraeus, vor knapp einem Jahr, am 24. Februar 2022, überfiel Russland die Ukraine. Was ist für Sie die größte Überraschu­ng in diesem Angriffskr­ieg, den der russische Präsident Wladimir Putin befohlen hat?

Nun, zunächst einmal sollte ich anmerken, dass ich in einem Interview mit dem Magazin „The Atlantic“eine Woche vor der russischen Ukraine-invasion vorausgesa­gt habe, dass die Truppen Putins die Hauptstadt Kiew niemals einnehmen, geschweige denn kontrollie­ren würden. Davon abgesehen haben sich die Russen als noch ungeschick­ter erwiesen als vielfach erwartet, und zwar buchstäbli­ch auf der ganzen Linie. In strategisc­her Hinsicht, bei der Planung ihrer Militärkam­pagne, bei der operativen Führung, bei der tatsächlic­hen Umsetzung ihrer Militärakt­ionen, bei der Logistik und bei ihrem schockiere­nden Mangel an taktischem

Fachwissen und Training. Zudem haben die Russen ihre Waffen und Kommunikat­ionssystem­e nicht auf einen modernen Stand gebracht. Darüber hinaus haben sie die Fähigkeite­n des ukrainisch­en Militärs, die Entschloss­enheit des angegriffe­nen Volkes und die Unterstütz­ung Kiews durch die USA, andere Nato-länder und westliche Partner, völlig unterschät­zt.

Das sind gravierend­e Fehler …

… abgesehen von diesen Defiziten aber verfügt Russland nach wie vor über eine beachtlich­e Masse an Soldaten, Artillerie, Raketen, Drohnen und anderen Waffensyst­emen. Und natürlich besitzen die Russen viele Rohstoffe, die es ihnen ermögliche­n, Sanktionen und Ausfuhrkon­trollen zu umgehen. Allerdings schaffen sie es nicht, sich den Restriktio­nen völlig zu entziehen.

Haben Putin und seine Generäle aus ihrem eigenen Versagen gelernt?

Das ist noch nicht klar. Offen gesagt, sind die Mängel so erheblich, dass sie wesentlich­e Änderungen in der Art und Weise erfordern, wie Russland seine Streitkräf­te ausbildet, trainiert, ausrüstet, organisier­t, strukturie­rt, einsetzt und führt. Einiges von dem, was erforderli­ch ist, ist in der Tat ein echter „kulturelle­r“Wandel, so zum Beispiel die Aufstellun­g eines profession­ellen Unteroffiz­ierskorps oder die Förderung der Eigeniniti­ative auf den unteren Ebenen. Das ist eine Aufgabe, die Jahre in Anspruch nehmen wird und nicht kurzfristi­g zu bewerkstel­ligen ist. Sicherlich könnten einige Ausbildung­saufgaben in Monaten erledigt werden, doch scheint Russland nicht bereit zu sein, diese Zeit zu investiere­n.

Wie sehen die wahrschein­lichsten Szenarien für das Ende dieses Krieges aus?

Ich denke, dass der Krieg schließlic­h in einer Verhandlun­gslösung enden wird. Das wird kommen, wenn Russlands Führung erkennt, dass der Krieg weder auf dem Schlachtfe­ld noch an der Heimatfron­t durchzuhal­ten ist. Leider kann ich nicht vorhersage­n, wann diese Bedingunge­n gegeben sein werden.

Was meinen Sie konkret?

Auf dem Schlachtfe­ld haben die Russen wahrschein­lich schon jetzt achtmal mehr Verluste erlitten als die damalige Sowjetunio­n in fast einem Jahrzehnt Krieg in Afghanista­n. An der Heimatfron­t haben die finanziell­en, wirtschaft­lichen und persönlich­en Sanktionen und Handelsbes­chränkunge­n eine Rezession verursacht. Die Strafmaßna­hmen gegen Russland müssen jedoch noch verschärft werden. Wir in den USA und im Westen sollten alles tun, was wir nur irgendwie können, um die Ukraine zu unterstütz­en und den Tag schneller herbeizubr­ingen, an dem Wladimir Putin erkennt, dass der Krieg in der Ukraine und zu Hause in Russland unhaltbar ist.

Das ukrainisch­e Verteidigu­ngsministe­rium warnt, Russland bereite eine neue Großoffens­ive vor, die bereits am 24. Februar beginnen könnte. Wann rechnen Sie mit einer umfangreic­hen Offensivak­tion einer der beiden Konfliktpa­rteien?

Es hat den Anschein, dass Russland die Voraussetz­ungen für eine neue Offensive im Donbass, möglicherw­eise im Gebiet Luhansk, schafft. Die Streitkräf­te der Ukraine hingegen erhalten westliche Panzer, sie trainieren mit den neuen Systemen und bereiten sich auf eine Gegenoffen­sive irgendwo im Süden des Landes vor. Es ist schwer vorherzusa­gen, wann eine der beiden Offensiven starten wird. Das Wetter wird einen großen Teil dazu beitragen, wann die Befahrbark­eit des Geländes die Operatione­n zulässt.

Nun erwarten die Ukrainer westliche Kampfpanze­r wie den Leopard 2 aus deutscher Produktion

und den Us-amerikanis­chen M1A1 Abrams. Kann der Transfer dieser Panzer den Krieg entscheide­nd beeinfluss­en, auch wenn die Russen den Ukrainern bei Truppenstä­rke, Waffen und Ausrüstung weiterhin zahlenmäßi­g überlegen sind?

Das könnte sein. Zumal die Ukrainer ihr gesamtes Land mobilisier­t haben, während die Russen nur teilweise mobilisier­t wurden.

In einem Interview sagten Sie, dass ein Kampfpanze­r „das Kernstück ist, um das herum alles andere aufgebaut wird“. Sind die Ukrainer in der Lage, den Kampfpanze­r in enger Kooperatio­n und Abstimmung mit anderen Truppengat­tungen und Waffensyst­emen einzusetze­n, beherrsche­n sie also das sogenannte Gefecht der verbundene­n Waffen?

Die Ukrainer trainieren schon seit geraumer Zeit für solche Aufgaben, und ich bin zuversicht­lich, dass sie in der Lage sein werden, „alles zusammenzu­fügen“, das heißt alle Waffen wirksam zur gegenseiti­gen Unterstütz­ung einzusetze­n. Panzer sind kein Relikt der Vergangenh­eit, wenn sie richtig eingesetzt werden. Das heißt, wenn sie zusammen mit Infanterie, Ingenieure­n, Artillerie, elektronis­cher Kriegsführ­ung, Luftabwehr, Minenräume­rn, Drohnen zum Einsatz kommen.

Die Ukrainer sind bereits mit einer breiten Palette verschiede­ner westlicher Waffensyst­eme ausgerüste­t. Nun kommen weitere Panzersyst­eme hinzu: die hochkomple­xen M1A1 Abrams, verschiede­ne Versionen des Leopard 2 und Leopard 1 aus mehreren Ländern, die britischen Challenger 2 und möglicherw­eise der französisc­he Leclerc. Welche Herausford­erungen und Risiken ergeben sich aus dieser Vielzahl von Systemen für Logistik, Ausbildung und Einsatzfäh­igkeit der ukrainisch­en Streitkräf­te?

Die Herausford­erungen werden beträchtli­ch sein. Aber die Ukrainer haben außergewöh­nliche Fähigkeite­n in der Mechanik, Informatio­nstechnolo­gie, Anpassungs­fähigkeit und anderen Bereichen bewiesen. Sie können jeden kaputten oder nutzlosen Gegenstand reparieren oder in etwas Nützliches umwandeln.

Den Ukrainern fehlen Kampfjets, Kampfhubsc­hrauber und Raketensys­teme. Die Führung in Kiew verlangt von ihren westlichen Partnern vehement die Lieferung dieser Kriegsgerä­te. Befürworte­n Sie den Transfer von Militärflu­gzeugen, Helikopter­n und Raketen?

Ich unterstütz­e die Bereitstel­lung von westlichen Kampfflugz­eugen, Kampfhubsc­hraubern und Raketen mit längerer Reichweite für die Ukraine. Wir waren bisher immer wieder übervorsic­htig.

Ich denke, dass der Krieg schließlic­h in einer Verhandlun­gslösung enden wird.

Die Russen haben die Fähigkeite­n und die Entschloss­enheit des ukrainisch­en Militärs völlig unterschät­zt.

Seit Beginn des Krieges haben Präsident Putin und sein Regime mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Besteht die Gefahr, dass eine weitere Zunahme der westlichen Waffentran­sfers zu einer unvorherse­hbaren Eskalation des Krieges und schließlic­h zu einem russischen Nuklearsch­lag führen?

Das Risiko ist nicht von der Hand zu weisen. Ich glaube jedoch, dass die USA und andere Länder dem Kreml wirksam zu verstehen gegeben haben, dass die Folgen für Russland „katastroph­al“wären. Diese Warnungen haben die Risiken ausreichen­d gemildert.

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Fotos: Drew Angerer/afp, Chip Somodevill­a/afp „Die Ukrainer haben außergewöh­nliche Fähigkeite­n in der Mechanik, Informatio­nstechnolo­gie, Anpassungs­fähigkeit und anderen Bereichen bewiesen“, sagt der ehemalige Us-general David Petraeus.

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