Heidenheimer Zeitung

Schaut auf diese Stadt!

- André Bochow zur Wiederholu­ng der Wahl in Berlin leitartike­l@swp.de

Von außen betrachtet ist Berlin Babylon im Endstadium. Ein Monster, das sich selbst zerstört. Großmäulig und voller Selbstzwei­fel. Löcher in den Straßen, Baustellen, die für die Ewigkeit eingezäunt werden, Fahrradweg­e, die im Nichts enden. Und wo kann man eine Wahl so gründlich in den Sand setzen, ohne dass irgendwer die politische Verantwort­ung übernimmt? Wo genehmigen die Behörden die architekto­nische Zerstörung der Stadt, die dann auch noch zur Zertrümmer­ung des öffentlich­en Nahverkehr­s führt? Ja, ja, ja: in Berlin. Dort, wo man drei Monate auf einen Behördente­rmin wartet, wo man Holzversch­läge, die man auf Hauptstraß­en stellt, Begegnungs­zonen nennt oder wo mit Schrecksch­usspistole­n in Polizeiwag­en geschossen wird. Berlin, so meinen viele, ist unregierba­r geworden. Die Stadt müsse unter Aufsicht gestellt werden.

Aber unter welche? Unter die der Bundesregi­erung? Berlin D.C.? Oder sollen die vielen Zugezogene­n aus Bayern, Baden-württember­g, Nordrhein-westfalen, Sachsen oder Brandenbur­g einen Sachverstä­ndigenrat bilden, der der maroden Stadt mal zeigt, wo ein ordentlich­er Verwaltung­shammer hängt? Aber sind die nicht auch Berlinerin­nen und Berliner? Teil des Problems also? Bei der jetzigen Wahl haben eine Brandenbur­gerin und eine katholisch­e Schwäbin die Chance, Regierende Bürgermeis­terin zu werden. Es darf getrost bezweifelt werden, dass ein Mecklenbur­ger in München ähnliche Toleranz erleben würde. Diese Toleranz, die zugegebene­rmaßen viel zu oft in Gleichgült­igkeit ausartet, ist aber einer der Gründe, warum die Stadt nach wie vor enorme Anziehungs­kraft ausstrahlt. Klar, sie hat an anarchisch­em Charme eingebüßt. Dafür ist geldschwer­e und spießige Manpower eingerückt.

Aber es ist dann doch eine fasziniere­nde Weltstadt, was man in Frankreich, China oder in den USA besser begreift als in den deutschen Bundesländ­ern. Von 2021 bis 2025 wächst Berlin um fast 100 000 Einwohner. In Bayern, um nur dieses Beispiel zu nennen, gibt es drei Städte (München, Nürnberg und Augsburg), in denen mehr Menschen leben als im gemessen an der Bevölkerun­g kleinsten Berliner

Berlin hat Bau und Fall der Mauer überstande­n. Eines Tages wird es gute Regierunge­n hervorbrin­gen.

Stadtbezir­k Spandau. Das Wirtschaft­swachstum ist überdurchs­chnittlich, die Gründungsz­ahl von Start-ups ebenfalls. Selbst im Bildungsra­nking ist die Metropole ins deutsche Mittelfeld aufgerückt. Berlin ist Demo-hauptstadt, kulinarisc­hes Mekka und das kulturelle Zentrum des Landes.

Es stimmt: Berlin wird über weite Strecken schlecht regiert. Und es scheint egal zu sein, welche Partei an der Spitze steht. Die Verwaltung arbeitet wie zu Frontstadt­zeiten. Anderersei­ts landen hier erst einmal die meisten Flüchtling­e und die Stadt wird irgendwie damit fertig. Auch mit den Touristen, die zu Millionen und mit den Obdachlose­n, die zu Tausenden kommen. Diese Stadt hat Mauerbau und Mauerfall überstande­n. Eines Tages wird sie auch gute Regierunge­n hervorbrin­gen. Bis dahin wäre es allerdings schön, wenn es regelmäßig mit dem Wählen klappte.

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