Heidenheimer Zeitung

Wettlauf mit dem Tod

Die Retter im türkisch-syrischen Erdbebenge­biet wühlen sich zum Teil mit bloßen Händen durch den Schutt. Erfolgserl­ebnisse werden seltener.

- Von Leticia Witte, kna (mit dpa/afp/epd)

Robert Chelhod fühlt sich an die Zeit erinnert, als er zurück nach Syrien kam. 2017 sei das gewesen, und jetzt, nach den verheerend­en Erdbeben, verspüre er dieselbe Trostlosig­keit und tiefe Traurigkei­t wie damals in dem vom Bürgerkrie­g gezeichnet­en Land. Chelhod koordinier­t die Projekte des deutschen katholisch­en Hilfswerks Missio Aachen in Syrien.

In der Region ist der Wettlauf mit der Zeit in vollem Gange. Das gilt ebenso für die verwüstete­n Zonen auf der türkischen Seite des Grenzgebie­ts. Der Wettlauf konzentrie­rt sich auf die schwindend­e Chance, noch Überlebend­e unter den Trümmern zu finden. Zugleich müssen die Überlebend­en in Eiseskälte mit Decken, provisoris­chem Obdach und Essen versorgt werden.

Die Menschen in Syrien sind bereits vom jahrelange­n Bürgerkrie­g in ihrem Land ausgezehrt. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Kämpfe und Luftangrif­fe waren viele Wohngegend­en, Krankenhäu­ser und andere Einrichtun­gen schon vor den Erdbeben zerstört. In der Region leben rund 4,5 Millionen Vertrieben­e, sie leiden unter anderem an mangelhaft­er Ernährung, Cholera und Kälte – die Folgen des Erdbebens kommen nun hinzu. Internatio­nale Hilfe kann das Land von außen nur schwer erreichen. Am Donnerstag traf ein erster Hilfskonvo­i der Vereinten Nationen mit sechs Lastwagen in dem von verschiede­nen Rebellengr­uppen kontrollie­rten Gebiet ein – drei Tage nach dem Beben.

Chelhod fordert das sofortige Ende internatio­naler Sanktionen gegen Syrien. Laut Bundesregi­erung sind Lebensmitt­el, Bergungsge­rät und generell humanitäre Hilfe davon ohnehin ausgenomme­n. Banküberwe­isungen von und nach Syrien seien jedoch unmöglich, sagen Menschenre­chtler. Zur Rettung von Menschen fehlt es im syrischen Erdbebenge­biet am Nötigsten. „Wir brauchen große Kräne, um große Trümmer zu beseitigen“, sagt Munir Mustafa, der stellvertr­etende Leiter der Rettungsor­ganisation Weißhelme. „Wir nutzen unsere Hände und Schaufeln“, berichtet sein Kollege Ubadah Sikra, der die Einsätze koordinier­t. „Einige von uns haben in den letzten 70 Stunden nicht mehr als sechs Stunden geschlafen“, sagt er. „Einige Freiwillig­e weigern sich, eine Pause zu machen, weil sie versuchen wollen, mehr Leben zu retten.“Manche vermuteten auch Freunde und Angehörige unter den Trümmern.

Hilfsflüge aus Deutschlan­d

Die EU schickte bislang 31 Suchund Rettungsma­nnschaften sowie fünf medizinisc­he Teams aus 23 Ländern in die Katastroph­enregion, darunter auch deutsche Helfer. „Die Hilfe reicht vielleicht für zehn Prozent der Menschen hier aus“, schätzt Rami Araban, Mitarbeite­r der Hilfsorgan­isation Care, der im türkischen Gaziantep eingetroff­en ist. Um Nahrung zu kaufen, benötige man Bargeld, allerdings funktionie­rten die Geldautoma­ten nicht. „Der Ausdruck Jäger und Sammler beschreibt die Situation hier recht gut“, sagt Araban.

Die ersten Hilfsflüge der Bundeswehr und des Technische­n Hilfswerks (THW) starteten am Donnerstag vom niedersäch­sischen Wunstorf aus in die Türkei. Die drei Flugzeuge vom Typ Airbus A 400M waren mit insgesamt 50 Tonnen Hilfsgüter­n beladen, darunter knapp 2000 Feldbetten, Schlafsäck­e und Decken. Auch Zelte, Heizgeräte und Isomatten wurden in das Krisengebi­et gebracht. Ein Hilfeersuc­hen Syriens werde derzeit geprüft, sagt Thwpräside­nt Gerd Friedsam.

Dem Sender TRT World zufolge konnten in der Türkei bislang etwa 8000 Menschen aus den Trümmern gerettet werden. „Die Retter weigern sich aufzugeben“, berichtet eine Reporterin. Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener.

Insgesamt sollen rund 100 000 Hilfskräft­e im Einsatz sein. Die meisten werden das Katastroph­engebiet am Wochenende wieder verlassen. Die Such- und Rettungsph­ase sei dann weitgehend abgeschlos­sen, heißt es übereinsti­mmend aus Kreisen der Helfer. Die Wahrschein­lichkeit, später noch Überlebend­e zu finden, sei äußerst gering.

 ?? ?? Im zerstörten türkischen Nurdagi sitzt dieser Mann vor den Resten seiner Habe. Bei dem Beben hat er fünf Familienmi­tglieder verloren.
Im zerstörten türkischen Nurdagi sitzt dieser Mann vor den Resten seiner Habe. Bei dem Beben hat er fünf Familienmi­tglieder verloren.

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