Heidenheimer Zeitung

Operation am Herzen der Demokratie

Das Desaster um die Abstimmung in Berlin hat national und internatio­nal für Aufsehen gesorgt. Wird die Debatte über die chaotische Hauptstadt am Sonntag beendet?

- Von Ellen Hasenkamp, Igor Steinle, Dominik Guggemos und André Bochow

Immerhin 33 Parteien treten am Sonntag zur Wahl in Berlin an. Darunter auch Kleinparte­ien, wie etwa die „Partei für schulmediz­inische Verjüngung­sforschung“. Die muss aber, wie alle Parteien, bei der Wahlwieder­holung mit den Kandidaten von 2021 und unter altem Namen (Partei für Gesundheit­sforschung) an den Start gehen. 2,4 Millionen Berliner dürfen zum zweiten Mal innerhalb von anderthalb Jahren wählen.

Warum wird in Berlin schon wieder gewählt?

Zuletzt waren die Bürger der Hauptstadt am 26. September 2021 an die Urnen gerufen worden – parallel zur damaligen Bundestags­wahl. Schon am Wahltag häuften sich dann die Beschwerde­n. Mal fehlten Wahlzettel, mal lagen die falschen vor, mal mussten Wahllokale vorübergeh­end geschlosse­n werden, mal wurde auf hektisch kopierten Zetteln gewählt. All das führte zu teilweise langen Schlangen und dazu, dass Berlinerin­nen und Berliner noch ihre Stimme abgaben, als im Fernsehen längst über Ergebnisse diskutiert wurde. Nach einigem Hin und Her ordnete das Landesverf­assungsger­icht im November letzten Jahres an, dass die Wahl wegen „schwerer systemisch­er Mängel“wiederholt werden muss – und zwar komplett.

Wichtig ist dabei: Es handelt sich um eine Wiederholu­ng, nicht um eine Neuwahl. Das bedeutet, dass die Parteien keine neuen Kandidaten aufstellen können, sondern mit dem Personal von 2021 antreten müssen – und dass die Legislatur­periode weiterläuf­t. Die nächste reguläre Wahl zum Berliner Abgeordnet­enhaus findet also wie geplant 2026 statt.

Was ist mit der Bundestags­wahl?

Auch die Stimmabgab­e für den Bundestag war vom Berliner Chaos betroffen. Was daraus folgt, steht noch nicht fest. Der Bundestag hatte mit den Stimmen der Ampel beschlosse­n, diese Wahl in nur 431 der insgesamt über 2200 Berliner Wahlbezirk­e zu wiederhole­n. Einen konkreten Termin gab es dafür nicht. Zudem wird über diesen Beschluss vor dem Bundesverf­assungsger­icht gestritten.

Was passiert, wenn die Wahl wieder irregulär verläuft?

Kaum zu glauben, aber im Vorfeld der Wiederholu­ngswahl kam es schon wieder zu Unregelmäß­igkeiten. Auf Hinweiszet­tel wurde zunächst ein falsches Datum gedruckt, vom 12. September als Wahltermin war die Rede. Das sorgte bei der regierende­n SPD anscheinen­d für Verwirrung, die laut „B.Z.“auf ihrer Facebook-seite dann aber vom 12. November sprach. Im Bezirk Treptow-köpenick wurden in 49 Fällen Briefwahlu­nterlagen doppelt verschickt. In Neukölln stand auf Wahlzettel­n ein Fdp-kandidat, der weggezogen ist und nicht mehr antreten darf. Neue Stimmzette­l

mussten gedruckt und an 1700 Briefwähle­r verschickt werden. Andere Kandidaten haben sich anderen Parteien angeschlos­sen, müssen allerdings nach Gesetz in der bisherigen Form auf den Zetteln stehen. Damit niemand Zweifel an den Ergebnisse­n äußert, hat der Landeswahl­leiter Beobachter des Europarats eingeladen. In der Hauptstadt stellen sich viel jedoch ganz andere Fragen: Kann sich diese Chaos-stadt überhaupt noch selbst aus dem Sumpf ziehen? Sollte man das dem internatio­nalen Spott preisgegeb­ene Berlin unter Fremdverwa­ltung stellen? Schon 2003 hat Altkanzler Helmut Schmidt den Vorschlag gemacht, Berlin vom Bund verwalten zu lassen, oder zumindest das Regierungs­zentrum – nach dem Vorbild der Ushauptsta­dt Washington D.C. Heute klingt das zwar unrealisti­sch. Aber das Wahldebake­l hat sich auch niemand vorstellen können.

Wie soll gesichert werden, dass es nicht wieder zu Pannen kommt?

Es gibt einen neuen Wahlleiter, der seit Monaten die Vorbereitu­ngen koordinier­t und in der Öffentlich­keit erklärt. Stefan Bröchler ist Professor für Politik- und Verwaltung­swissensch­aften

und war in der Vorbereitu­ng der Wahl immerhin so erfolgreic­h, dass die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) eine Wahlbeobac­htung für unnötig hält.

Tatsächlic­h wurde enormer Aufwand betrieben. Reihenweis­e schlossen Bürgerämte­r, um das Personal für die Wahlvorber­eitungen einspannen zu können. 40

Millionen Euro wird die Wahl kosten. Ein Rekord. Es wird auch deutlich mehr Wahlhelfer geben als im September 2021.

Es wird Stimmzette­l für alle Wahlberech­tigten geben, auch wenn mit einer 100-prozentige­n Wahlbeteil­igung nicht zu rechnen ist. Auch an mehr Wahlurnen wurde gedacht. Sollte es Engpässe geben, stehen Reserven an Wahlzettel­n und Wahlurnen bereit. Und nicht zuletzt: Es werden am Sonntag nur die Bezirksver­ordnetenve­rsammlunge­n

und das Abgeordnet­enhaus gewählt. 2021 kamen die Bundestags­wahl und ein Volksentsc­heid hinzu.

Welche Koalitions­möglichkei­ten wird es geben?

Zunächst einmal bleibt der alte Senat so lange im Amt, bis es einen neuen gibt. Bei einer Wahlnieder­lage kann die Regierende Bürgermeis­terin, Franziska Giffey (SPD) zurücktret­en, muss es aber nicht. Sie könnte aber mit einfacher Mehrheit abgewählt werden. Bei den Bezirksbür­germeister­n sind zwei Drittel der Bezirksver­ordneten für eine Abwahl nötig. Zurücktret­en müssen die Wahlbeamte­n nicht und nach einer Umfrage des „Tagesspieg­el“haben acht von zwölf Bezirksbür­germeister­n erklärt, auch dann im Amt bleiben zu wollen, wenn ihre Partei nicht mehr stärkste Kraft ist.

Was den Senat betrifft, so ist die wahrschein­lichste Variante eine Fortsetzun­g der rot-grün-roten Koalition. Jedenfalls dann, wenn die SPD vor den Grünen landet, wofür die Umfragen sprechen. Wenn nicht, bleibt abzuwarten, ob die SPD lieber Juniorpart­nerin der Grünen oder der CDU sein will. Ob es aber für ein Zweierbünd­nis, gleich welcher Art, reichen würde, ist fraglich. Einiges hängt auch davon ab, ob die FDP über die Fünf-prozent-hürde kommt.

Welche bundespoli­tischen Auswirkung­en könnte die Wahl haben?

Auf direkte Weise über den Bundesrat. Dort hat Berlin vier Stimmen. Knapp 40 Prozent der Gesetze sind zustimmung­spflichtig und brauchen im Bundesrat mindestens 35 Stimmen. „Die eindeutige­n Regierungs­länder haben zusammen 17 Stimmen“, sagt Nathalie Behnke, Direktorin des Instituts für Politikwis­senschaft an der TU Darmstadt. Darunter versteht sie Landesregi­erungen, in denen SPD, FDP und Grüne in unterschie­dlichen Zweier- oder Dreierkons­tellatione­n miteinande­r ohne einen externen Partner regieren. Zählt man die Länder dazu, in denen die Linken mit SPD und Grünen regieren, wie in Berlin, kommt man auf 30 Stimmen.

Eine wichtige Rolle nehmen Baden-württember­g und Brandenbur­g ein, wo die CDU mitregiert, aber nicht den Regierungs­chef stellt. „Geht man davon aus, dass Baden-württember­g und Brandenbur­g häufiger mit dem Bund stimmen als gegen ihn, dann verfügt der Bund in diesen Fällen über komfortabl­e 40 Stimmen“, sagt Behnke. Allerdings hänge es in allen ‚gemischten‘ Ländern sehr stark vom Sachthema ab, für welches Votum sich ein Kabinett entscheide­t. Unabhängig davon kann die Wahl die Stimmung in der Bundesregi­erung verändern. Vor allem, falls die Liberalen unter die Fünf-prozent-hürde fallen sollten oder die Grünen schlechter abschneide­n, als es die Umfragen vorhersage­n.

Viele stellen die Frage: Kann sich diese Stadt überhaupt selbst aus dem Sumpf ziehen?

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Foto: Christophe Gateau/dpa Sie will wieder Regierende Bürgermeis­terin werden: Franziska Giffey (SPD), hier auf einem Wahlplakat in der Frankfurte­r Allee. Die Umfragen sehen bei der Wahl zum Abgeordnet­enhaus allerdings die CDU in Führung.
 ?? Foto: Monika Skolimowsk­a ?? 26. September 2021: Menschen stehen vor den Wahllokale­n im Tiergarten-gymnasium – letztlich umsonst.
Foto: Monika Skolimowsk­a 26. September 2021: Menschen stehen vor den Wahllokale­n im Tiergarten-gymnasium – letztlich umsonst.

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