Operation am Herzen der Demokratie
Das Desaster um die Abstimmung in Berlin hat national und international für Aufsehen gesorgt. Wird die Debatte über die chaotische Hauptstadt am Sonntag beendet?
Immerhin 33 Parteien treten am Sonntag zur Wahl in Berlin an. Darunter auch Kleinparteien, wie etwa die „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“. Die muss aber, wie alle Parteien, bei der Wahlwiederholung mit den Kandidaten von 2021 und unter altem Namen (Partei für Gesundheitsforschung) an den Start gehen. 2,4 Millionen Berliner dürfen zum zweiten Mal innerhalb von anderthalb Jahren wählen.
Warum wird in Berlin schon wieder gewählt?
Zuletzt waren die Bürger der Hauptstadt am 26. September 2021 an die Urnen gerufen worden – parallel zur damaligen Bundestagswahl. Schon am Wahltag häuften sich dann die Beschwerden. Mal fehlten Wahlzettel, mal lagen die falschen vor, mal mussten Wahllokale vorübergehend geschlossen werden, mal wurde auf hektisch kopierten Zetteln gewählt. All das führte zu teilweise langen Schlangen und dazu, dass Berlinerinnen und Berliner noch ihre Stimme abgaben, als im Fernsehen längst über Ergebnisse diskutiert wurde. Nach einigem Hin und Her ordnete das Landesverfassungsgericht im November letzten Jahres an, dass die Wahl wegen „schwerer systemischer Mängel“wiederholt werden muss – und zwar komplett.
Wichtig ist dabei: Es handelt sich um eine Wiederholung, nicht um eine Neuwahl. Das bedeutet, dass die Parteien keine neuen Kandidaten aufstellen können, sondern mit dem Personal von 2021 antreten müssen – und dass die Legislaturperiode weiterläuft. Die nächste reguläre Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus findet also wie geplant 2026 statt.
Was ist mit der Bundestagswahl?
Auch die Stimmabgabe für den Bundestag war vom Berliner Chaos betroffen. Was daraus folgt, steht noch nicht fest. Der Bundestag hatte mit den Stimmen der Ampel beschlossen, diese Wahl in nur 431 der insgesamt über 2200 Berliner Wahlbezirke zu wiederholen. Einen konkreten Termin gab es dafür nicht. Zudem wird über diesen Beschluss vor dem Bundesverfassungsgericht gestritten.
Was passiert, wenn die Wahl wieder irregulär verläuft?
Kaum zu glauben, aber im Vorfeld der Wiederholungswahl kam es schon wieder zu Unregelmäßigkeiten. Auf Hinweiszettel wurde zunächst ein falsches Datum gedruckt, vom 12. September als Wahltermin war die Rede. Das sorgte bei der regierenden SPD anscheinend für Verwirrung, die laut „B.Z.“auf ihrer Facebook-seite dann aber vom 12. November sprach. Im Bezirk Treptow-köpenick wurden in 49 Fällen Briefwahlunterlagen doppelt verschickt. In Neukölln stand auf Wahlzetteln ein Fdp-kandidat, der weggezogen ist und nicht mehr antreten darf. Neue Stimmzettel
mussten gedruckt und an 1700 Briefwähler verschickt werden. Andere Kandidaten haben sich anderen Parteien angeschlossen, müssen allerdings nach Gesetz in der bisherigen Form auf den Zetteln stehen. Damit niemand Zweifel an den Ergebnissen äußert, hat der Landeswahlleiter Beobachter des Europarats eingeladen. In der Hauptstadt stellen sich viel jedoch ganz andere Fragen: Kann sich diese Chaos-stadt überhaupt noch selbst aus dem Sumpf ziehen? Sollte man das dem internationalen Spott preisgegebene Berlin unter Fremdverwaltung stellen? Schon 2003 hat Altkanzler Helmut Schmidt den Vorschlag gemacht, Berlin vom Bund verwalten zu lassen, oder zumindest das Regierungszentrum – nach dem Vorbild der Ushauptstadt Washington D.C. Heute klingt das zwar unrealistisch. Aber das Wahldebakel hat sich auch niemand vorstellen können.
Wie soll gesichert werden, dass es nicht wieder zu Pannen kommt?
Es gibt einen neuen Wahlleiter, der seit Monaten die Vorbereitungen koordiniert und in der Öffentlichkeit erklärt. Stefan Bröchler ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften
und war in der Vorbereitung der Wahl immerhin so erfolgreich, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Wahlbeobachtung für unnötig hält.
Tatsächlich wurde enormer Aufwand betrieben. Reihenweise schlossen Bürgerämter, um das Personal für die Wahlvorbereitungen einspannen zu können. 40
Millionen Euro wird die Wahl kosten. Ein Rekord. Es wird auch deutlich mehr Wahlhelfer geben als im September 2021.
Es wird Stimmzettel für alle Wahlberechtigten geben, auch wenn mit einer 100-prozentigen Wahlbeteiligung nicht zu rechnen ist. Auch an mehr Wahlurnen wurde gedacht. Sollte es Engpässe geben, stehen Reserven an Wahlzetteln und Wahlurnen bereit. Und nicht zuletzt: Es werden am Sonntag nur die Bezirksverordnetenversammlungen
und das Abgeordnetenhaus gewählt. 2021 kamen die Bundestagswahl und ein Volksentscheid hinzu.
Welche Koalitionsmöglichkeiten wird es geben?
Zunächst einmal bleibt der alte Senat so lange im Amt, bis es einen neuen gibt. Bei einer Wahlniederlage kann die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD) zurücktreten, muss es aber nicht. Sie könnte aber mit einfacher Mehrheit abgewählt werden. Bei den Bezirksbürgermeistern sind zwei Drittel der Bezirksverordneten für eine Abwahl nötig. Zurücktreten müssen die Wahlbeamten nicht und nach einer Umfrage des „Tagesspiegel“haben acht von zwölf Bezirksbürgermeistern erklärt, auch dann im Amt bleiben zu wollen, wenn ihre Partei nicht mehr stärkste Kraft ist.
Was den Senat betrifft, so ist die wahrscheinlichste Variante eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition. Jedenfalls dann, wenn die SPD vor den Grünen landet, wofür die Umfragen sprechen. Wenn nicht, bleibt abzuwarten, ob die SPD lieber Juniorpartnerin der Grünen oder der CDU sein will. Ob es aber für ein Zweierbündnis, gleich welcher Art, reichen würde, ist fraglich. Einiges hängt auch davon ab, ob die FDP über die Fünf-prozent-hürde kommt.
Welche bundespolitischen Auswirkungen könnte die Wahl haben?
Auf direkte Weise über den Bundesrat. Dort hat Berlin vier Stimmen. Knapp 40 Prozent der Gesetze sind zustimmungspflichtig und brauchen im Bundesrat mindestens 35 Stimmen. „Die eindeutigen Regierungsländer haben zusammen 17 Stimmen“, sagt Nathalie Behnke, Direktorin des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt. Darunter versteht sie Landesregierungen, in denen SPD, FDP und Grüne in unterschiedlichen Zweier- oder Dreierkonstellationen miteinander ohne einen externen Partner regieren. Zählt man die Länder dazu, in denen die Linken mit SPD und Grünen regieren, wie in Berlin, kommt man auf 30 Stimmen.
Eine wichtige Rolle nehmen Baden-württemberg und Brandenburg ein, wo die CDU mitregiert, aber nicht den Regierungschef stellt. „Geht man davon aus, dass Baden-württemberg und Brandenburg häufiger mit dem Bund stimmen als gegen ihn, dann verfügt der Bund in diesen Fällen über komfortable 40 Stimmen“, sagt Behnke. Allerdings hänge es in allen ‚gemischten‘ Ländern sehr stark vom Sachthema ab, für welches Votum sich ein Kabinett entscheidet. Unabhängig davon kann die Wahl die Stimmung in der Bundesregierung verändern. Vor allem, falls die Liberalen unter die Fünf-prozent-hürde fallen sollten oder die Grünen schlechter abschneiden, als es die Umfragen vorhersagen.
Viele stellen die Frage: Kann sich diese Stadt überhaupt selbst aus dem Sumpf ziehen?