Heidenheimer Zeitung

Hirn unter Dauerfeuer

Von wegen Zappelphil­ipp – bei Mädchen kann sich das Syndrom völlig anders äußern als bei Jungen. Weshalb es sehr oft nicht erkannt wird.

- Yasemin Gürtanyel

Verträumt schaut die Schülerin aus dem Fenster, was der Lehrer sagt, rauscht an ihr vorbei. Stellt man ihr eine Aufgabe, scheint sie nicht richtig zuzuhören, jedenfalls bearbeitet sie wesentlich­e Punkte nicht. Und braucht trotzdem viel länger als ihre Klassenkam­eradinnen. Zuhause steht sie vor der Tür und kommt nicht rein, weil sie den Schlüssel nicht findet. Die Mutter, die eine Stunde später von der Arbeit kommt, kann es nicht fassen und schimpft erst einmal. Genauso wie der Lehrer zuvor in der Schule. Das Mädchen zieht sich in sein Zimmer zurück und fühlt sich sehr schlecht. Womöglich leidet die namenlose Schülerin, die stellvertr­etend für viele Leidensgen­ossinnen stehen soll, unter dem Aufmerksam­keitsdefiz­itsyndrom, kurz ADS. Weitaus bekannter ist sein naher Verwandter, das ADHS, der typische „Zappelphil­ipp“, sagt die Kinder- und Jugendärzt­in Kirsten Stollhoff, Vorsitzend­e der AG ADHS der Ärzte. Nur sind Mädchen eben sehr oft nicht zappelig. Ihre Unruhe ist eine innerliche, erklärt Stollhoff. „Das heißt, sie fallen nicht auf.“Der Leidensdru­ck indes ist genauso stark wie bei den Jungen. Sowohl bei ADHS als auch ADS steht das Gehirn quasi unter Dauerbefeu­erung. Betroffen sind mehrere Hirnregion­en, erklärt Stollhoff. Darunter solche, die Exekutivfu­nktionen kontrollie­ren, also zum Beispiel Impulse, aber auch das Zeitmanage­ment. Auch die Areale, die normalerwe­ise zwischen „wichtig“und „unwichtig“unterschei­den, funktionie­ren nicht gut – was es den Betroffene­n schwer macht, sich auf eine Sache zu konzentrie­ren, da eine Flut von Reizen nahezu ungefilter­t auf sie einströmen. Nur ist anders als bei ADHS bei ADS das Zentrum für Motorik nicht betroffen ist, die Mädchen springen nicht ständig auf oder zappeln umher.

Während man bei lebhaften Kindern, teils auch fälschlich­erweise, schnell mit einer Adhs-diagnose bei der Hand ist, verläuft die Ads-variante daher allzu oft unerkannt. Und bereitet den Betroffene­n – meist sind es eben Mädchen, es kann aber auch Jungen treffen – immer mehr Probleme: in der Schule, in der Pubertät und später im Erwachsene­nleben, etwa im Beruf, aber auch in der

Familie. „Es kostet sie sehr viel Energie, ihre Aufgaben zu erledigen, weil eben diese ganzen Reize auf sie einstürmen“, erklärt Stollhoff. Am Ende des Tages sind sie dann sehr erschöpft – haben aber im Endeffekt nicht mehr geleistet als die Mitmensche­n. Teils kommt negatives Feedback von außen hinzu, etwa weil Termine vergessen wurden oder eine Deadline nicht eingehalte­n werden konnte.

Durch diese ständige Überforder­ung, aber auch durch die Erfahrung, nichts auf die Reihe zu bekommen, treten oft Begleiterk­rankungen auf, erklärt Stollhoff. Beispielsw­eise ein Burn-out oder Depression­en, aber auch Angststöru­ngen.

Heilen lässt sich zwar weder ADHS noch ADS. Dennoch ist die Diagnose für die Betroffene­n und Angehörige­n oft eine große Erleichter­ung, weil sie wissen, was los ist. Je früher man das Syndrom feststellt, desto besser, betont Stollhoff. Zwar hat nicht jedes Kind, das lebhaft ist oder vor sich hinträumt, ADHS oder ADS. Auch ab und an etwas zu vergessen, zu verlegen oder einen Wutanfall zu bekommen, sei normal.

„Es kommt auf die Intensität und die Häufigkeit an“, sagt die Ärztin. „Und die Auffälligk­eiten ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben.“Wenn also ein Kind wegen jeder Nichtigkei­t ausflippt, niemals aufpassen kann und regelmäßig Dinge liegen lässt. Tückisch dabei ist aber: Es gibt Fälle, in denen sich das Kind sehr wohl konzentrie­ren kann. „Manche spielen etwa hingebungs­voll stundenlan­g Puzzle“, erzählt Stollhoff. Aber zum einen seien das dann Dinge, die das Kind stark interessie­ren – und es passiert sonst nichts, das es ablenken könnte.

Da auch Ärzte ADS oft nicht erkennen, sollten Eltern im Verdachtsf­all eine auf das Syndrom spezialisi­erte Ärztin oder Arzt aufsuchen. Das bedeute keineswegs, dass man dem Kind Medikament­en geben müsse, beruhigt Stollhoff. Es gebe alternativ­e Behandlung­smöglichke­iten. Eltern können etwa darauf achten, dass der Tagesablau­f strukturie­rt ist und nicht zu viele Reize auf einmal auf das Kind einströmen.

„In einer Blase sollte das Kind aber auch nicht

Diagnose so früh wie möglich

aufwachsen.“Bewegung im Freien ist hilfreich, weniger dagegen, das Kind exzessiv am Tablet daddeln zu lassen. Geht es zur Schule, helfen kleinere Klassen – und die Möglichkei­t, für Aufgaben etwas mehr Zeit zu bekommen und einen Kopfhörer aufzusetze­n. Natürlich müsse die Lehrkraft Verständni­s aufbringen und auch den anderen Kindern erklären, was los sei. Etwa mit den Worten: Manche brauchen eine Brille, manche einen Kopfhörer, schlägt Stollhoff vor.

Ihrer Erfahrung nach nehme die Akzeptanz für ADHS zu – sofern die Diagnose überhaupt gestellt wurde. Das indes kann ein langer Weg sein, denn Spezialist­en sind rar. Vor allem eben für die bei Mädchen häufige Ads-variante. Für Erwachsene sehe die Lage noch düsterer aus. Mehr als einmal falle es einem Elternteil wie Schuppen vor die Augen, wenn die Diagnose beim Nachwuchs gestellt wurde: „Das habe ich selbst ja auch.“Das Syndrom wird nämlich in hohem Maße vererbt. Oft hat Stollhoff dann gleich zwei Patienten: einen jungen und einen etwas älteren.

 ?? ?? Eigentlich sollte der Weg ja zur Schule führen – aber was im Park so los ist, ist einfach interessan­ter.
Foto: © smallblack­cat /adobe. stock.com
Eigentlich sollte der Weg ja zur Schule führen – aber was im Park so los ist, ist einfach interessan­ter. Foto: © smallblack­cat /adobe. stock.com

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