Die Chamäleondame
Die Tanzwelt des John Neumeier: In Stuttgart ist das Meisterwerk des Hamburger Grandseigneurs wieder auf der Bühne zu sehen.
John Neumeier und sein Hamburg Ballett touren derzeit um den Globus. Gestern Venedig, heute Chicago, morgen Tokio, wo eine Gala standesgemäß „The World of John Neumeier“heißen wird: In wenigen Tagen feiert der Maestro seinen 84. Geburtstag.
Und er hat es geschafft. Hat geschaffen, was in dieser Dimension wohl sonst nur George Balanchine am New York City Ballet geglückt sein dürfte: Das eigene Oeuvre von der hauseigenen Hamburger Compagnie konservieren zu lassen, bis kaum mehr Platz bleibt für choreografischen Zufluss von außen – der designierte Nachfolger Demis Volpi, auch ein Ex-stuttgarter, wird daran sicherlich etwas ändern.
Neumeiers Universum verbleibt aber zudem in einer schnieken Eppendorfer Villa, in die ein Ballettmuseum mit stattlichem Vorlass des Langzeit-intendanten einzieht. Und die weltweite Nachfrage nach den Vorzeigestücken seines Repertoires hält sowieso an. Zwar hat das Königliche-dänische Ballett in Kopenhagen gerade seinen „Othello“wegen vermeintlich rassistischem Stereotyp gecancelt, und das Bolschoi Ballett hat er wegen Putins Krieg wieder ausgeladen. Doch er und sein Werk überstehen auch das.
Das Phänomen Neumeier: Als Spätberufener machte sich der Us-amerikaner nach Militärdienst und Literaturstudium drei Jahre jünger, um an der Londoner Royal Ballet School anzukommen. Die Notlüge flog erst auf, als Hamburgs damaliger Rathauschef Olaf Scholz ihm 2017 zum 75. Geburtstag
gratulieren wollte. Schon den Londoner Ballettschul-abgänger riefen New York und Stuttgart, er entschied sich damals für John Cranko und dessen Ballett-muse Marcia Haydée. Er stieg rasch zum Solisten auf und bald schon zum Nachwuchs-choreografen.
Sein frühvollendetes Meisterwerk schuf Neumeier allerdings erstmal exklusiv für Stuttgart, und zwar deutlich nach dem Abschied vom Eckensee. Über die Zwischenstation Frankfurt war Neumeier nach Hamburg gelangt, wo er seit 1973, Crankos Todesjahr, die Tanzsparte zur eigenständigen, auch international gefragten Marke ausbaute. Der klassische Kanon und alles andere ging in selbstbewusst neoklassischer Neu(meier)deutung auf, zumal der Meister sich übers halbe Jahrhundert ungemein produktiv zeigte: 170 Werke dürften es inzwischen geworden sein.
Und doch sprang er vor 45 Jahren Marcia Haydée bei, als die Erbverwalterin neuen Stoff jenseits der Cranko-hinterlassenschaften brauchte: Stuttgarts „Kameliendame“war von Anfang an eine Sensation. Denn Neumeier setzte durch eine verschachtelte, beinahe filmische Spiegelung des Dumas-romans den Kontrapunkt nicht zuletzt zum linear dramaturgischen Aufbau der vorhandenen großen Handlungsdramen. So setzte sich der Zögling, bei aller Ehrerbietung, von dem Lehrmeister und „Konstrukteur“Cranko ab. Für ihn bleibe die „Erfindung eigener Bewegung“der „Kern von Choreografie“, hat Neumeier dazu einmal bekundet. Das lässt sich an der aktuellen Wiederaufnahme der „Kameliendame“in Stuttgart bestens ablesen.
Auch wenn Friedemann Vogels jugendlicher Liebhaber Armand mittlerweile das Schwabenalter erreicht hat, merkt man es dem scheinbar zeit- wie grenzenlos agierenden Kammertänzer kaum an. Er bleibt die Konstante dieser Gesellschafts- und Beziehungstragödie, in der nun Elisa Badenes die schwind- und sehnsüchtig dahinsiechende Edelkurtisane Marguerite besonders leidens-, aber auch wandlungsfähig changieren lässt. Von anfangs kokett über bekümmert bis angekränkelt und todgeweiht: ein Wechselspiel der Gefühle und Zustände. Und Badenes somit als Chamäleondame dieser Aufführung.
Wie er sie bekniet
Die drei zentralen Pas de deux bilden jedenfalls das Rückgrat der gesamten Aufführung. Armand, wie er sich ihr zu Füßen wirft, sie mitunter akrobatisch auf Händen trägt, wie er sie bekniet und verstößt, wie sie ihn verlässt und doch nicht lassen kann: Die beiden spiegeln wunderbar das psychosoziale Moment, den Trennungsriss zwischen starrer gesellschaftlicher Konvention und ausgefeilt tänzerischer Konversation. Ein Riss, der die mitfühlende Mätresse und den hoffnungslos überforderten Jüngling aus besseren Kreisen trennt.
Das Stuttgarter Original ist eine Zuchtperle des Repertoires, nicht nur in Hamburg und anderswo. Gut, dass sie nun auch hier im Opernhaus blankgeputzt wurde. Nahezu die gesamte Compagnie des Stuttgarter Balletts ist gefordert, aus dem Staatsorchestergraben perlt Chopin wie Champagner, zumeist von vier Pianisten im Wechsel kredenzt. Großer Jubel, Standing Ovations nach der Premiere.