Heidenheimer Zeitung

Der Wählerwill­e zählt

Zum Wahlergebn­is in Berlin und der Frage, wer einen Regierungs­auftrag hat

- André Bochow leitartike­l@swp.de

Knapp ein Viertel der Wahlberech­tigten stimmten im September 2021 bei der Bundestags­wahl für die SPD. Die Wahlbeteil­igung betrug seinerzeit knapp 77 Prozent. Obwohl also bei weitem nicht jeder Vierte seinem Wunsch Ausdruck verlieh, die SPD möge doch bitte die künftige Regierung führen, leiteten die Sozialdemo­kraten einen Regierungs­auftrag aus dem Votum ab. Auch der Unionskanz­lerkandida­t Armin Laschet wollte eine Regierung anführen. Der Vorsprung der SPD vor seiner CDU/CSU betrug 1,6 Prozentpun­kte. Jetzt liegt in Berlin die CDU mit 10 Punkten vorn. Tatsächlic­h haben SPD und Grüne recht, wenn sie sagen, auch dieser Vorsprung stelle keinen eindeutige­n Regierungs­auftrag dar. Umso mehr stimmte, was Armin Laschet seinerzeit behauptete, dass auch er berechtigt sei, eine Koalition zusammenzu­zimmern.

Allein, die Union war sehr schlecht vorbereite­t, niemand wollte nach 16 Jahren Merkel-kanzlersch­aft in ein konservati­ves Boot und allgemein verfestigt­e sich der Wunsch: lieber

Scholz als Laschet.

In diesem Fall hatte es also der Zweitplatz­ierte nicht geschafft, legitim wäre es gewesen. So wie es formal in Ordnung wäre, wenn in Berlin die gerupfte rot-grüne-rote Landesregi­erung einen zweiten Aufschlag versuchen würde. Allein, die Demokratie ist nicht in erster Linie eine Rechenaufg­abe, sondern muss dem entspreche­n, was die Menschen wollen. Und wollen die Berliner, dass diejenigen, die für das Wahldesast­er 2021 verantwort­lich waren, ohne dafür die Verantwort­ung zu übernehmen, die dafür gesorgt haben, dass Berlin als am schlechtes­ten regierte Stadt gilt, weiter regieren? Dass die CDU von der Regierung ferngehalt­en wird?

Mitunter müssen einfach Quantitäte­n in eine neue Qualität umschlagen. Andernfall­s könnten die Wählerinne­n und Wähler den Eindruck gewinnen, jedes Wahlergebn­is, das keinen absoluten Sieger anzeigt, sei frei interpreti­erbar. Ist es aber nicht. So wie es keine Automatism­en gibt, die Wahlsieger an die Regierungs­spitze führen, darf es auch keine Beliebigke­it bei der Auslegung des Wählerwill­ens geben.

Zumindest bedarf es einer plausiblen Begründung, um einer eindeutig stärksten Partei die höchsten Weihen zu verweigern. Etwa, weil der Vorrat an Gemeinsamk­eiten von Parteien so

Natürlich kann es sein, dass die CDU in Berlin keine andere Partei überzeugen kann.

groß ist, dass es praktisch unzumutbar wäre, sie von ihren kollektive­n Vorhaben nur deshalb abzubringe­n, weil ein Wahlsieger zum Regierungs­tanz bittet. Das war offensicht­lich so, als die Grünen und die SPD 2011 nach 58 Jahren Regierungs­zeit die CDU in Baden-württember­g stürzten, die immerhin 39 Prozent der Stimmen holte. Die zweitplatz­ierten Grünen brachten es auf 24 Prozent. Andere Beispiele ließen sich mühelos finden.

Es kommt also tatsächlic­h auf die Umstände an. Und natürlich kann es sein, dass die CDU in Berlin keine andere Partei überzeugen kann. Dann muss es eben anders gehen. Entscheide­nd ist, egal wo, die kluge Umsetzung dessen, was der Wählerwill­e ist. Auch wenn es noch so schwer ist, herauszufi­nden, worin der besteht.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany