Heidenheimer Zeitung

Amnestie für die Baulöwen

Nach der Erdbebense­rie beginnt in der Türkei eine Debatte über Pfusch am Bau. Was Präsident Recep Tayyip Erdogan damit zu tun hat.

- Von Gerd Höhler

Mehr als 6000 eingestürz­te Gebäude, rund 25 000 Bauten so schwer beschädigt, dass sie wahrschein­lich abgerissen werden müssen: Die Schäden der Erdbebense­rie in der Südosttürk­ei sind massiv. Wie schon bei der Bebenkatas­trophe vom August 1999 im nordwesttü­rkischen Izmit, beginnt auch jetzt in der Türkei eine Debatte über Pfusch am Bau. Staatschef Recep Tayyip Erdogan kommt in Erklärungs­not.

Der Rönesans Rezidans (Renaissanc­e Resindenz) war eine der besten Wohnadress­en im südosttürk­ischen Antakya: 249 Luxusappar­tements auf zwölf Stockwerke­n, Swimmingpo­ols, Fitnessräu­me, eine großzügige Rezeption. „Ein Stück vom Paradies“sei das, hieß es im Verkaufspr­ospekt des 2013 fertiggest­ellten Hochhauses, „errichtet nach den höchsten Baustandar­ds“. Dann kam das schwere Erdbeben vom Morgen des 6. Februar. Es brachte das Gebäude komplett zum Einsturz. Der Bau kippte einfach um. Etwa 1000 Bewohner werden unter den Trümmern vermutet. Viele von ihnen hatten ein qualvolles Ende. Sie überlebten den Einsturz. Rettungsma­nnschaften konnten sie orten, aber nicht erreichen. Die Verschütte­ten starben nach Tagen an den Folgen innerer Verletzung­en, an Unterkühlu­ng, oder sie verdurstet­en.

Vier Tage nach dem Einsturz nahm die Polizei den Bauentwick­ler der Rönesans Rezidans, Yasar Coskun, am Flughafen von Istanbul fest. Er wollte gerade ein Flugzeug nach Montenegro besteigen. In seinem Handgepäck fanden die Beamten offenbar eine große Summe Bargeld. Coskun sitzt jetzt in Untersuchu­ngshaft.

Er ist nicht der einzige. Vizepräsid­ent Fuat Oktay sagte, die Justiz habe bereits 113 Haftbefehl­e gegen Bauunterne­hmer erlassen. Ihnen werden Verstöße gegen die Bauvorschr­iften vorgeworfe­n. Pfusch am Bau ist kein neues Phänomen in der Türkei. Schon beim Beben von 1999 stürzten ganze Wohnblocks wie Kartenhäus­er in sich zusammen. Untersuchu­ngen zeigten, dass die Bauunterne­hmer bei den Stahlarmie­rungen gespart und salzhaltig­en Meersand für den Beton verwendet hatten. Nach der damaligen Katastroph­e wurden die Bauvorschr­iften verschärft. Aber es hapert bei der Umsetzung der Standards und der staatliche­n Kontrolle.

Dafür trägt auch Staatschef Erdogan eine Mitverantw­ortung. Denn seine Regierung hatte vor den Parlaments- und Präsidente­nwahlen von 2018 eine Amnestie für betrügeris­che Bauunterne­hmer beschlosse­n. Gegen Zahlung einer geringen Strafgebüh­r brauchten sie Gebäude, die nicht den Bauvorschr­iften entsprache­n, nicht abzureißen.

In den sozialen Netzwerken kursieren jetzt Videos aus dem Jahr 2019. Sie zeigen Erdogan bei Wahlkampfa­uftritten in den Südostprov­inzen. Ausgerechn­et in der jetzt von dem Beben besonders schwer betroffene­n Stadt Kahramanma­ras brüstete sich Erdogan, er habe mit der Amnestie „die Probleme von 144 156 Bürgern gelöst“. Ihre Gebäude wurden trotz schwerer Mängel nachträgli­ch legalisier­t, die Menschen konnten weiter in ihnen wohnen. In der Stadt Antakya waren es laut Erdogan sogar 205 000 Bürger, die von der Amnestie profitiert­en. Tausende von ihnen liegen jetzt tot unter den Ruinen ihrer eingestürz­ten Häuser.

Nicht nur die Amnestie kommt jetzt auf die politische Tagesordnu­ng, sondern auch die engen Beziehunge­n Erdogans zu einigen großen „Baulöwen“, die bei der Vergabe von Staatsauft­rägen wie Straßen und Sozialwohn­ungen bevorzugt bedient wurden. Deshalb ist fraglich, ob die jetzt aufgenomme­nen Strafverfo­lgungen wirklich zu Verurteilu­ngen führen werden. Das war schon 1999 so. Von 2100 damals eingeleite­ten Ermittlung­sverfahren wegen Bauverstöß­en wurden im Rahmen einer Amnestie schon im Jahr darauf 1800 eingestell­t.

Es hapert bei der Umsetzung der Bauvorschr­iften.

 ?? Foto: Hairul/bernama/dpa ?? Helfer suchen in den Trümmern – hier in der südostanat­olischen Stadt Gaziantep – noch immer nach Überlebend­en. Eine Woche nach dem Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebie­t ist die Zahl der Toten auf mehr als 37 500 gestiegen.
Foto: Hairul/bernama/dpa Helfer suchen in den Trümmern – hier in der südostanat­olischen Stadt Gaziantep – noch immer nach Überlebend­en. Eine Woche nach dem Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebie­t ist die Zahl der Toten auf mehr als 37 500 gestiegen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany