„Ich möchte immer unterwegs sein“
Die Abenteurerin reiste alleine bis zum Nanga Parbat und geriet dabei auch in den Strudel der Proteste im Iran. Ein Gespräch über Momente der Hilflosigkeit – und warum es sie trotz allem immer wieder von zu Hause wegzieht.
Sie kommt aus einem kleinen Dorf in Hessen, ist Rentnerin und will die Welt entdecken. Mit dem Auto oder Motorrad wagt sich Margot Flügel-anhalt in Länder, in denen eine alleinreisende Frau noch eine Seltenheit ist. Und sie schreibt auf, was sie sieht und fühlt auf diesen Touren. Ihre Bücher sind Bestseller geworden. In „Hoch. Hinaus“erzählt die 69-Jährige nun von ihrer letzten Fahrt, die sie zum Nanga Parbat ins Himalaya-gebirge führte. Eine Reise, die, sagt sie, anstrengender war als alle zuvor: In Pakistan erlebte sie die Auswirkungen der Jahrhundertflut, im Iran wurde sie Zeugin der Freiheitsbewegung gegen das autoritäre Regime.
Frau Flügel-anhalt, Sie werden dieses Jahr 70. Der Schriftsteller Ernest Hemingway, auch ein Vielreisender wie Sie, sagte einmal: „Die Altersweisheit gibt es nicht. Wenn man altert, wird man nicht weise, sondern nur vorsichtig.“Würden Sie ihm widersprechen?
Auf jeden Fall. Ich werde eher unvorsichtiger.
Nach Ihrer Pensionierung waren Sie mit einem Motorrad, einer 125er Enduro, in Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Iran unterwegs. Sie sind auch mit einem alten Benz nach Laos gefahren. Und im vergangenen Jahr hatten Sie sich den Nanga Parbat, den neunthöchsten Berg der Erde, als Ziel ausgesucht. Warum machen Sie das?
Ich möchte immer unterwegs sein, neue Eindrücke sammeln. Das war schon so, bevor ich in Rente gegangen bin. Da bin ich zu Fuß über den St. Gotthard gewandert. Als meine beiden Kinder noch klein waren, sind wir mit einem umgebauten Opel-blitz-postbus ein halbes Jahr durch Europa gefahren. Mich interessieren andere Kulturen und Landschaften. Deshalb will ich reisen.
Das klingt so nach: Hauptsache weit weg …
Nein, ich muss dafür nicht Tausende von Kilometer fahren. Ich kann auch im Wald hinter meinem Haus neue Eindrücke sammeln. Dann packe ich mein Zelt ein und übernachte dort ein paar Tage.
Auf Ihrer letzten Reise waren Sie 85 Tage lang auf Tour. 22 822 Kilometer waren es zum Nanga Parbat hin und zurück. Als Fahrzeug hatten Sie ein russisches Auto gewählt, einen Lada Niva. Warum?
Die Straßen in Zentralasien sind nicht sehr autofreundlich. Es kommt oft zu Pannen. Deshalb brauchte ich ein Auto, das in den dortigen Werkstätten repariert werden konnte. Eines wie den Lada Niva, der ohne große technische Ausstattung auskommt. Bei dem man die Motorhaube aufmacht und sieht, wo alles ist.
Sie erzählen in Ihrem neuen Buch „Hoch. Hinaus.“von Überschwemmungen, Stromausfällen, Steinlawinen, quälenden Wartezeiten an Grenzen, Magen-darm-problemen – wollten Sie jemals aufgeben?
Nein. Dass solche Dinge eintreten, wusste ich schon von meinen vorherigen Reisen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die Jahrhundertflut in Pakistan. Das Land war zu einem Drittel überschwemmt, 1700 Menschen und über eine Million Tiere sind dabei gestorben. Eine verheerende Katastrophe, die das Leben in Pakistan noch Jahrzehnte beeinträchtigen wird. Ich selbst kam tagelang nicht weiter und musste in einem Hotel, das für mich eher wie ein Gefängnis war, ausharren. Und dann auf der Rückfahrt geriet ich im Iran in den Strudel der Ereignisse nach dem gewaltsamen Tod der Studentin Mahsa Amini.
Was haben Sie davon mitbekommen?
Als ich von Pakistan über die Grenze in den Iran eingereist bin, war mit einem Mal das Internet weg. Ich hatte keine Navigation, konnte keine Hotels buchen und auch mit niemandem mehr Kontakt aufnehmen. Alle Medien waren blockiert, damit die Menschen sich nicht untereinander zu Demonstrationen verabreden konnten. In Teheran waren wegen der Proteste viele Bereiche der Innenstadt gesperrt. Ich habe Frauen ohne Kopftuch gesehen, die auf Demonstrationen gegangen sind.
Hatten Sie Angst?
Von meiner Reise soll ja auch ein Film herauskommen. Deshalb hatte in meinem Auto ein Kamerasystem installiert. Wenn diese Kameras entdeckt worden wären, würde ich heute im Iran im Knast sitzen. Das war mir damals noch nicht so klar. Erst zu Hause habe ich erfahren, in welche Gefahr ich mich begeben hatte.
Sie reisen alleine. Macht es das einfacher, auf so eine Tour zu gehen?
Ja. Weil ich mich dann nur mit mir selbst abstimmen muss, meinem Bauchgefühl folgen kann. Wenn ich als Frau in Ländern wie Pakistan oder Iran mit einem männlichen Partner unterwegs wäre, dann würde kein Mensch mit mir reden.
Eine fast 70-jährige Frau alleine unterwegs am Steuer eines Autos – das klingt hier normal. Aber auf Ihrer Reise war es das für viele nicht …
Ja, aber die Männer dort waren trotzdem erstaunlich cool. Sie haben sich sehr respektvoll mir gegenüber verhalten.
Warum mussten Sicherheitskräfte Sie in Pakistan begleiten?
Seit den Tötungen von Touristen ist in der pakistanischen Provinz Belutschistan die Durchreise nur noch mit Eskorte möglich. Man ist eine Art Gefangene zur eigenen Sicherheit.
Sie mussten sogar in Polizeistationen übernachten …
Die furchtbare Flut hatte viele Straßen weggespült. Ich musste immer wieder Zwischenhalte in Polizeistationen machen. Dort gibt es Zellen, in die man sich mit seinem Schlafsack legen kann.
Wie sind Ihnen die Frauen in Pakistan und Iran begegnet?
Viele wollten wissen, wie es ist, als Frau alleine unterwegs sein zu können. Aber sie wollten mit mir auch über ihre eigene Situation sprechen. Im Iran erzählten mir Frauen, wie furchtbar sie ihr politisches System finden. Sie hofften, dass ich diese Botschaft nach außen trage.
Welche Kleidung trugen Sie?
Ich habe langärmelige Kleider und ein Tuch über dem Kopf getragen. Wenn ich in solche Länder reise, halte ich mich an die Regeln.
Was war der schönste Moment auf Ihrer Reise?
Nachts am Nanga Parbat auf 4000 Meter Höhe bin ich aufgewacht. Ich ging vor mein Zelt und sah diesen unglaublich faszinierenden Achttausender, den neunthöchsten Berg der Welt. Milliarden Sterne leuchteten am Himmel. Das war beeindruckend.
Nach sechs Wochen Fahrt standen Sie Anfang September am Nanga Parbat …
Man kommt ja sehr langsam an. Mit meinem Auto konnte ich bis zur Rakhiotbrücke fahren. Dort musste ich in einen Jeep umsteigen, der mich auf einer grässlichen Piste, die eher einem felsigen Pfad glich, weiter nach oben brachte. Irgendwann war es so steil, dass ich laufen musste. Ich bin bis zum Camp 1, also bis auf 4560 Meter hochgestiegen. Wenn man weiter will, muss man über einen Gletscher und dafür braucht man eine ganz andere Ausrüstung.
Gab es auch einen schlimmsten Moment auf Ihrer Reise?
Auf der Rückreise hat in Pakistan meine Lichtmaschine den Geist aufgegeben. Mitten in der Nacht, nach ganz vielen Autostunden am Steuer durch die Berge, ging plötzlich der Motor aus. Ich konnte nicht mehr bremsen und bin auf den Polizeiwagen der Eskorte raufgefahren. Da habe ich schon gedacht: Diese Art von Abenteuer brauche ich nicht. Aber man muss eben auch solche Situationen bewältigen.
„Selbstdisziplin ist eine wesentliche Voraussetzung für Reisen, wie ich sie plane“, schreiben Sie. Lernt man sowas oder ist das Begabung?
Ich versuche, mein Leben eigenständig zu regeln. Da bin ich sehr diszipliniert. Wenn es mal nicht so gut läuft und mich das runterzieht, hole ich mich auch selbst wieder raus.
Sie sind Witwe, haben zwei Söhne, 37 und 40 Jahre alt. Wollten die ihre Mutter nicht von der Reise zurückhalten?
Sie kennen mich ja nichts anders. Sie sind damit großgeworden, dass ich mit ihnen unterwegs war. Der Kleine hat im Wohnmobil laufen gelernt. Meine Söhne würden sich wundern, wenn ich nicht wieder aufbrechen würde. Natürlich weiß ich, dass eine solche Reise tödlich enden kann. Jedes Mal, bevor ich losfahre, kläre ich mein Testament und ordne meine Versicherungsunterlagen. Ich möchte nicht, dass meine Söhne dann neben der Trauer noch komplizierte Papierarbeiten leisten müssen.
Wenn ich als Frau in Pakistan oder Iran mit einem Mann unterwegs wäre, würde kein Mensch mit mir reden.
Wenn es mal nicht so gut läuft, hole ich mich selbst wieder raus.
Sie sind auf Ihren Reisen oft die einzige Frau unter Männern – was ist das für ein Gefühl?
Das kenne ich auch von hier. (lacht) Ich bin Ortsvorsteherin in der hessischen Gemeinde Thurnhosbach und bei den Sitzungen bin ich meist nur unter Männern. Wie auch beim Kampfsport, den ich seit 20 Jahren mache.
Sie schreiben: „Bei jeder Reise, die ich unternehme, gibt es auch eine innere Reise.“Was haben Sie auf dieser Reise über sich selber gelernt?
In Deutschland sind wir gewöhnt, alles entscheiden zu können. Ich habe diesmal auf der Reise Situationen erlebt – wie die Flut in Pakistan und die politischen Auseinandersetzungen in Iran – in denen ich hilflos war. Ich konnte nicht weiterreisen, fühlte mich mehr oder weniger gefangen. Da habe ich festgestellt: Es ist leichter, solche Dinge zu ertragen, wenn man sich einfach zugesteht, dass man nicht alles entscheiden kann. Wichtig ist, dass man innerlich aufrecht bleibt.
Werden Sie mit 70 Jahren dann etwas bequemer reisen?
Auf keinen Fall. Ich plane gerade meine nächste Tour. Sie wird mich an der Donau entlang bis zum Schwarzen Meer führen, das sind circa 2800 Kilometer. Fahren werde ich auf einem E-bike. Das habe ich mir im Supermarkt gekauft.