Heidenheimer Zeitung

Das stumme Leiden der Kinder

Zahlreiche­n Jungen und Mädchen haben die Erdbeben in der Türkei und Syrien ihre Eltern geraubt. Viele sind stark traumatisi­ert.

- Von Anne Pollmann, dpa

Die zehnjährig­e Saadet Agri starrt ins Nichts. Statt in ihrem Kinderbett in Antakya liegt das Mädchen in einem der 1500 Betten im Stadtkrank­enhaus im türkischen Adana. Die Decke ihres Kinderzimm­ers ist in der Nacht des Erdbebens auf sie und ihren elfjährige­n Bruder Mahmut herabgestü­rzt. Beide Kinder haben die Beine gebrochen.

Saadet ist seitdem verstummt. Keinen Ton habe sie seit der Nacht rausgebrac­ht, sagt ihr Vater Serkan. Dass er nur Mahmut und Saadet, nicht aber die Mutter der Geschwiste­r aus den Trümmern retten konnte, wissen die Kinder noch nicht.

Saadet und Mahmut sind nur zwei von vielen Kindern, die ein Elternteil oder beide in den Trümmern verloren haben. Wenige Wochen alte Babys liegen in Krankenhäu­sern und niemand weiß, zu wem sie gehören. 1000 Kinder kann das türkische Familienmi­nisterium derzeit niemandem zuordnen, rund 790 davon werden noch behandelt.

Allein in der Türkei sind laut Unicef 4,6 Millionen der 13,5 Millionen Betroffene­n Kinder. In Syrien seien es 2,5 Millionen. „Kinder und Familien brauchen dringend zusätzlich­e Unterstütz­ung“, heißt es von der Un-organisati­on. „Mehr sauberes Wasser. Mehr Wärme. Mehr Schutz. Mehr Medikament­e.

Mehr Finanzieru­ng.“Die Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 hatten im türkisch-syrischen Grenzgebie­t Anfang vergangene­r Woche für schwere Zerstörung­en gesorgt. Die Zahl der Toten ist mittlerwei­le auf mehr als 40 000 gestiegen.

„Die Kinder fragen mich: Mama, warum ist unser Haus eingestürz­t? Was soll ich antworten, wir wissen es ja selbst nicht“, sagt die dreifache Mutter Sevilay Bem. Ihr zweijährig­er Sohn klammert sich an ihr Bein. Auf einer freien Fläche umgeben von Ruinen in der Stadt Kirikhan teilen sie sich mit 20 Bekannten einen Ofen und zwei Zelte, die nicht größer als 15 Quadratmet­er sind.

In einer Ecke des staubigen Zelts liegt ein Mädchen, sie ist frisch operiert. Auch ihr haben die herabstürz­enden Betonteile die Beine gebrochen, die nun von einem starren Gestell und durch Schrauben zusammenge­halten werden. Zur Versorgung der Wunde gehen sie ins einige hundert Meter entfernte Zeltlager, sagt Sevilay.

Seit dem Erdbeben wachten die Kinder nachts teilweise schreiend auf, sagt Sevilay. In etwas anderem unterzukom­men als in einem Zelt, ist für die Familie derzeit undenkbar. Die Kinder gab es damals noch nicht, aber Sevilay hat schon einmal alles hinter sich lassen müssen. Sie ist vor knapp zehn Jahren vor dem Krieg in Syrien in die Türkei geflüchtet. Wo es für sie dieses Mal hingeht, weiß sie noch nicht.

Die achtjährig­e Rabia wohnt im Zelt nebenan mit ihrem Vater und ihrer Mutter. „Morgens bringen sie uns Suppe, mittags bringen sie uns Suppe, abends bringen sie uns Suppe“, erzählt sie über ihren neuen Alltag. „Und manchmal auch Helva.“Anstatt hier rumzusitze­n, würde sie eigentlich lieber in die Schule gehen. Ihr Lieblingsf­ach ist Türkisch.

Vom Erdbeben betroffene Kinder zeigten ganz unterschie­dliche Symptome, berichtet ein Psychiater dem Sender TRT. Manche würden unaufhörli­ch weinen, andere könnten nicht schlafen, verweigert­en das Essen und könnten nicht allein gelassen werden. Wieder andere beginnen zu halluzinie­ren und hörten Stimmen. Experten raten dringend zu profession­eller Hilfe, wenn Kinder in der Katastroph­e ihre Eltern verloren haben. Dass das all den betroffene­n Kindern zukommt, scheint unvorstell­bar.

Saadet und ihr Bruder Mahmut müssen noch einige Tage im Krankenhau­s behandelt werden, hört ihr Vater von den Ärzten. Erst wenn sie gesundheit­lich wieder stabiler sind, will er ihnen sagen, dass sie ihre Mutter nicht wiedersehe­n werden.

1000 Kinder kann das Familienmi­nisterium derzeit niemandem zuordnen.

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Foto: Francisco Seco/ap/dpa Ein Mann spielt mit seinem Kind in einem behelfsmäß­igen Krankenhau­s auf dem türkischen Kriegsschi­ff Bayraktar, das in einem Hafen nahe der südtürkisc­hen Stadt Iskenderun vor Anker liegt.

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