Leistung zeigen oder Brüste
Comedian Ingolf Lück brilliert in dem Ein-personen-stück „Seite eins“im Heidenheimer Konzerthaus mit Darstellungskunst und Präsenz.
Die Welt der Schönen, Reichen und Berühmten, der Stars und Sternchen und deren süßen und anderen Geheimnissen, das ist auch die Welt von Marco, Protagonist des Theaterstücks „Seite eins“, das am Mittwochabend im Konzerthaus gezeigt wurde. Denn Marco ist Journalist, aber nicht irgendeiner, sondern Boulevardjournalist. Wenn dies auch für manchen danach klingt, als sei dies gar kein richtiger Journalismus, etwa wie ein Schönheitschirurg auch nur halb als Chirurg gelte, für Marco ist es die Königsklasse.
Der Boulevardjournalist
Denn mit seinen Geschichten, und sei es auch nur einer Aneinanderreihung von Fragen oder Mutmaßungen à la „Ist es Liebe?“zum passenden Foto, ist er angetreten, um den Leser ernst zu nehmen. In seinen Bedürfnissen. In seiner Suche nach Wahrheit. Und zwar, wie es in dem Stück heißt, nicht die Wahrheit einer ideologisierten Medienklasse oder einer opportunistischen Politikerklasse, nicht die der gierigen Manager oder dogmatischen Wissenschaftler. Nein, ihm geht es um die Wahrheit der Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen.
Und dabei hat er nur Gutes im Sinn: Vor dem Erfolg muss Leistung stehen, sonst, das weiß Marco, geht die Gesellschaft vor die Hunde. Und wenn Sängerin Lea ihr Album verkaufen möchte, dann muss sie eben Leistung zeigen, sprich: Brüste. Oder eben ihren schwerreichen Freund aus der Industriellenfamilie.
Titelstory und Aufmerksamkeit
Und das erreicht Marco tatsächlich auch: Als ausgebuffter alter Hase spielt er sämtliche Tricks aus, zieht gekonnt mit dem richtigen Tonfall an den passenden Fäden, hat bald alle am Haken und er setzt die richtigen Satzzeichen. Alles läuft wie am Schnürchen: Titelstory und Aufmerksamkeit in allen Leserschichten. Ob in Jogginghosen oder Designerklamotten – jeder liest die Geschichte.
Dass der schwerreiche Freund gar nicht aus der Industriellenfamilie stammt und Sängerin Lea mächtig sauer ist, dass es gar nicht um ihr Album geht – was soll’s. Marco schüttelt sich und gleich Teil zwei der Geschichte aus dem Ärmel.
Der Schnitzer um die Herkunft des Freundes kommt ein wenig grob daher, aber Johannes Kram, der Autor des Stückes, hat für seinen Blog das Gebaren einer großen deutschen Boulevardzeitung beobachtet und an den Pranger gestellt – er dürfte daher im Bild sein, was da so alles passieren kann. Ansonsten ist diese Satire fein gedrechselt, es haut dem Publikum Sätze und Erkenntnisse um die Ohren, wie sie so in Boulevardzeitungen nie zu lesen sein würden, weil kompliziert formuliert. Und lässt in allen sorgsam
durchdachten Wendungen durchschimmern, was den Erfolg des Boulevards ausmacht: Der Leser will es einfach. Also, im Sinne von schlicht.
Großartiger Schauspieler
Dass dieses Stück „für einen Mann und ein Smartphone“mit dem Thema Boulevard über die ganze Dauer von rund eineinhalb Stunden zu keiner Sekunde durchhängt, das liegt nicht nur am großartigen Aufbau des Stücks. Das liegt vor allem an einem: Ingolf Lück. Das ist schon überaus sehenswert, wie er den von seiner Sache nicht nur überzeugten, sondern gänzlich in ihr aufgehenden Boulevardjournalisten gibt. Er bespielt die große Bühne des Konzerthauses mühelos allein, mit großem physischen Einsatz – und so jugendlich er
auch wirkt, er geht immerhin auf die 65 Jahre zu – und trifft auch bei noch so rasanten Umschwüngen die Gefühle auf den Punkt. Zynisch referierend, lieblich säuselnd, nebulös drohend, aggressiv wütend, abgebrüht alle Register ziehend, virtuos am Smartphone und das in einer geradezu ansteckenden hektischen Betriebsamkeit, die nie zur Ruhe kommt, wobei beim Sprechen hier und da etwas weniger Tempo hilfreich gewesen wäre. Dennoch: So mag ihn Autor Johannes Kram gedacht haben, seinen windigen Journalisten, so nimmt man ihn auch gerne ab, auch wenn nicht selten im Stück dem Publikum der Spiegel vorgehalten wird. Sind wir nicht alle ein bisschen Boulevard? Dieser Frage kann man sich im Publikum durchaus häufiger ausgesetzt fühlen, freilich durchaus
gepaart mit dem mulmigen Gefühl, dass diese Satire vielleicht so satirisch gar nicht ist.
Doch zurück zu Lück: Er, der die Schauspielerei nicht von der Pike auf gelernt hat, glänzt hier in grandioser Darstellungskunst, gepaart mit einer ganz enormen Präsenz und er erntet langanhaltenden Applaus von den rund 200 Zuschauern. Als wäre das Stück maßgeschneidert für ihn. Das war schon Königsklasse.