Sauerstoff für die Seele
Mit Bekenntnissen zu Freiheit und Film eröffnen die 73. Internationalen Filmfestspiele in Berlin – und mit dem Drama „She Came to Me“.
Da ist es wieder, das Berlinale-gefühl. Golshifteh Farahani, die wunderbare iranische Schauspielerin aus „About Elly“und in diesem Jahr Mitglied der Wettbewerbsjury, sitzt auf dem Podium und erzählt, wie symbolhaft es sich für sie anfühlt, gerade jetzt in Berlin zu sein, in der Stadt, in der die Mauer fiel – während überall sonst, in ihrer Heimat Iran, in der Ukraine, in den Erdbebengebieten der Türkei und Syriens, die Welt zusammenzufallen scheine. Kunst, das sei für die Menschen im Iran wie Sauerstoff.
Kristen Stewart, die junge Jurypräsidentin, die mit ihren dunklen Haaren im Wet-look und dem müden Gesicht aussieht, als habe sie schon alle 19 Wettbewerbsfilme gesehen und darüber die ganze Nacht mit ihren Jurykollegen diskutiert, bekennt freimütig, sie sei zunächst geschockt gewesen, als die Einladung nach Berlin kam. Und doch so froh, jetzt gerade hier zu sein: „Wir leben in Zeiten, in denen wir uns quasi in einem emotionalen Schleudertrauma befinden.“Gerade in solchen Zeiten seien Filme ein gutes Mittel gegen Gefühle der Ohnmacht. Und der legendäre Hongkong-film-regisseur Johnny To betont: „Gerade Diktaturen sind gegen den Film, weil Film, weil Kino so eine enge Verbindung zum Publikum, zu den Menschen hat. Es gilt weltweit: Wenn man um Freiheit kämpfen will, dann muss man sich einsetzen fürs Kino, für den Film.“
Soviel also zur Politik auf dem politischsten der drei großen Filmfestivals Venedig, Cannes und Berlin. Dazu passt der Schwerpunkt auf Filmen aus der Ukraine und dem Iran, und die
Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi am Donnerstagabend zur Eröffnung eine Videobotschaft sendet, anmoderiert vom Us-schauspieler Sean Penn, der seinen Dokumentarfilm „Superpower“über das Kiew der ersten Kriegstage auf dem Festival präsentiert.
Aber auch das ist Berlin: Das Festivalzentrum am Potsdamer Platz ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum erreichbar – die S-bahn hat Schienenersatzverkehr eingerichtet, die U-bahn pendelt zum Alexanderplatz. Hinzu kommt am Freitag der Flughafenstreik, sodass die Festivalleitung besorgt ist, ob die geladenen Gäste überhaupt alle anreisen können: Mariette Rissenbeek, die Geschäftsführerin der Berlinale, erklärte, die Gästeabteilung werde wie wild daran arbeiten, dass andere Lösungen gefunden würden. Vielleicht müssten Gäste auf andere Flughäfen ausweichen, und dann müsse man mit Zugverbindungen denken. „Das ist eine große Herausforderung, das will ich jetzt nicht verschweigen.“
Giffey eröffnet das Festival
Zu allem Überfluss kündigt Verdi am Tag der Festivaleröffnung noch Warnstreiks bei der Yorck Kino Gmbh in Berlin an. Unter anderem seien das Filmtheater am Friedrichshain sowie die Kinos Blauer Stern und International als Spielstätten der Berlinale betroffen. Auch die Aktivisten der Klimagruppe Letzte Generation nutzen die Eröffnung. Am Rande des roten Teppichs setzen sich abends ein junger Mann und eine junge Frau hin und kleben sich fest. Größere Störungen gibt es dadurch aber nicht.
Willkommen also in der Stadt der Politik, der Pannen und der Proteste: Dass Franziska Giffey, die als Regierende Bürgermeisterin von Berlin neben Kulturministerin Claudia Roth das Festival eröffnet, nach der Berlin-wahl vom Sonntag um ihren Posten bangen muss, passt da aufs Schönste ins Bild.
Auch passt, dass der Eröffnungsfilm „She Came to Me“von Rebecca Miller zwar gut gemeint, aber leider nicht wirklich gut ist. Eine bunte Gesellschaft findet sich auf einem Schlepperkahn auf dem Hudson River in New York zusammen: Kapitänin Katrina (Marisa Tomei), die süchtig nach Romantik ist und sich in den kleinwüchsigen Komponisten Steven (Peter Dinklage) verliebt. Stevens Therapeutin und Ehefrau Patricia (Anne Hathaway), die einen Putzfimmel hat und von einem Leben als Nonne träumt. Und ihr Sohn aus erster Ehe Julian (Evan Ellison), der eine Teenie-romanze mit seiner Klassenkameradin Tereza (Jane Harlow), Tochter von Patricias polnischer Reinigungskraft Magdalena (Joanna Kulig), unterhält.
Sie alle finden, auf der Flucht vor Magdalenas reaktionär-gewalttätigem Ehemann Trey (Brian d’arcy James) auf dem Schlepper wie auf einer Arche Noah zusammen. Alle sind Beschädigte, leiden unter Schreibblockaden, Panikattacken, Psychosen oder falsch diagnostizierten Sehnsüchten. Und sie alle schlösse man sofort ins Herz – wenn nicht die Story so konstruiert wäre. Trotzdem ist der Film mit seinem Plädoyer für Menschlichkeit kein schlechter Eröffnungsfilm. Bessere werden hoffentlich folgen.
Auch das ist Berlin: Der Verkehr funktioniert nicht, und im Kino wird gestreikt.