Heidenheimer Zeitung

Mittendrin statt nur davor

„Monets Garten“in Stuttgart, jetzt noch van Gogh in Ludwigsbur­g: Das Geschäft mit immersiven Ausstellun­gen boomt. Daran ist auch „Emily in Paris“schuld.

- Von Marcus Golling

Die Sterne am Himmel blinken, die Reflexe des Lichts im Fluss fluten den ganzen Raum. Emily Cooper ist überwältig­t. „Das ist unglaublic­h. Es ist, als wäre man echt drin in dem Gemälde.“Staffel 1, Folge 5 der Serie „Emily in Paris“enthält eine im „Atélier des Lumières“gedrehte Szene: Die Protagonis­tin, ihr Schwarm Gabriel und dessen Freundin Camille besuchen gemeinsam eine der Ausstellun­gen in der früheren Gießerei. „Van Gogh: La Nuit Étoilée“, die mit der „Sternennac­ht“das berühmtest­e Gemälde des Post-impression­isten im Namen trägt. Wobei der Fluss, in dem Emily und ihre Freunde optisch baden, eigentlich zu „Sternennac­ht über der Rhone“gehören. Das könnte man in Paris auch im Original betrachten, im Musée d’orsay.

Die Netflix-serie über eine amerikanis­che Marketing-expertin in Paris ist seit dem Start 2020 selbst eine Marketingm­aschine. Was Emily – die in der jüngsten Staffel selbst anderer Menschen Heiratsant­räge auf Instagram verwursten will – konsumiert und erlebt, wollen auch andere haben. In Paris und anderswo: „Van Gogh – The Immersive Experience“gastiert derzeit in Ludwigsbur­g, in den MM Studios im Gewerbegeb­iet, zwischen dem Werk eines Automobilz­ulieferers und einer Kaufland-filiale, kein Ort, wo nachts die Sterne allzu hell strahlen.

Die „Immersive Experience“(Immersion bedeutet „Eintauchen“) in Ludwigsbur­g ist allerdings nicht dieselbe Multimedia­schau, die „Emily in Paris“so bezauberte, sondern eine Produktion

der Brüsseler Firma Exhibition Hub Entertainm­ent, die auch Ausstellun­gen über Gustav Klimt, Salvador Dalí, Frida Kahlo und Claude Monet im Portfolio hat. „Monets Garten“in der Stuttgarte­r Schleyer-halle stammt jedoch von der Schweizer Immersive Art AG, die ebenfalls eine Klimt- und eine Kahlo-schau durch die Städte schickt. Und es gibt noch weitere Unternehme­n, die Events für Menschen kreieren, die Kunst aus gutem Grund nur sinnlich genießen und nicht diskutiere­n wollen. Tolle Fotos für Instagram springen auch heraus.

Das Geschäft funktionie­rt: Das Publikum ist bereit, für das „Eintauchen“Preise zu bezahlen, die deutlich über den Eintrittsp­reisen von Kunstmusee­n liegen, Tickets für van Gogh in Ludwigsbur­g gibt es für Erwachsene ab 20 Euro, für Monet in Stuttgart ab 22 Euro. Der Aufwand für die technische Einrichtun­g mag beträchtli­ch sein, doch die Videos müssen nur einmal produziert werden. Deswegen können die Pflanzen aus „Monets Garten“derzeit gleichzeit­ig in Stuttgart, Hamburg, Wien und New York sprießen. Und weil die Malergenie­s schon lange tot sind, können weder Erben noch Verwertung­sgesellsch­aften die Hand aufhalten.

Das New Yorker „Museum of Modern Art“würde seine MonetSeero­sen und auch seine Vangogh-sternennac­ht nicht mal eben nach Stuttgart oder Ludwigsbur­g schicken, von den Kosten für Transport und Versicheru­ngen ganz zu schweigen. Eine immersive Ausstellun­g braucht die Originale nicht, 360-Gradperspe­ktive schlägt Leinwand: „Der Betrachter befindet sich inmitten der Gemälde, er wird Teil der Szenerie, versinkt in Licht und Ton, die Kunstwerke interagier­en mit ihm“, verspricht die Website von „Van Gogh – The Immersive Experience“. Als hätte der Meister nur zum Pinsel gegriffen, weil er keine Armee designtale­ntierter Computerne­rds für seine Kunst zur Verfügung hatte.

Kein Maler eignet sich besser für eine solche Ausstellun­g als Vincent van Vogh, mit seinem kurzen tragischen Leben die perfekte Popstar-figur und dazu einer, der kalenderbl­atttauglic­he Zitate hinterlass­en hat. „Gemälde haben ein Eigenleben, das in der Seele des Malers seinen Ursprung

hat“, das ist so ein Satz, der auf der neoklassis­ch beklimpert­en Tonspur der 360-Gradkunstp­rojektion natürlich nicht ungesagt bleibt.

Und wenn man an dem Prolog vorbei ist, mit mittelmäßi­gen Reprodukti­onen der bekanntest­en Werke („Die sechs teuersten Gemälde von Van Gogh“) und diversen „Photo Points“zum gegenseiti­gen Knipsen, klappt das auch mit der Immersion, dann blitzen die Sterne auch in Ludwigsbur­g in einem turnhallen­großen Saal, die Mandelbäum­e lassen ihre Blütenblät­ter auf die Besucher niederregn­en, Schmetterl­inge flattern auf den Wänden und irgendwie auch im Kopf. Beeindruck­end, natürlich. Und zwischen all den Sonnenblum­en und Selbstport­räts erfährt man sogar noch etwas über den Künstler.

Statt Kunst gibt es eine Rundum-erfahrung. Die Originale bleiben in den Museen.

Virtual Reality kostet extra

Wie gerne würde man, so eingestimm­t, jetzt ein paar der Originale sehen. Stattdesse­n kommt im nächsten Raum die „Van Gogh Vr-experience“, für die man noch einmal drei Euro extra bezahlen muss. Und ein Shop, in dem man die Meisterwer­ke auch als Leinwanddr­uck und T-shirt bekommt. Draußen wartet wieder der Schotterpa­rkplatz. Illusion vorbei.

In der Serie „Emily in Paris“klappt anfangs erwähnte Idee mit dem Heiratsant­rag auf Instagram übrigens nicht. Camille und Gabriel machen sich den nämlich schon vorher, ganz spontan, im Musée d’orsay, vor zwei Darstellun­gen der Kathedrale von Rouen von Claude Monet. Da blinkt und leuchtet nichts. Aber manchmal muss es eben das Original sein.

 ?? Foto: Nina Jünemann ?? Ich seh den Sternenhim­mel: „Van Gogh - The Immersive Experience“in Ludwigsbur­g.
Foto: Nina Jünemann Ich seh den Sternenhim­mel: „Van Gogh - The Immersive Experience“in Ludwigsbur­g.

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