Heidenheimer Zeitung

Schmerzhaf­te Ungewisshe­it

Seit einem Jahr tobt der russische Angriffskr­ieg. Er hat Familien auseinande­r gerissen und die Menschen gezeichnet. Über das Überleben in der Fremde.

- Von Elisabeth Zoll

Die Hoffnung von einer schnellen Rückkehr in das Heimatland hat sich zerschlage­n, ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine. Nach ersten Raketenang­riffen am 24. Februar 2022 packten vor allem Frauen in vielen Städten Koffer, um sich in der Fremde in Sicherheit zu bringen. Für kurze Zeit, dachten viele. In Wochen, spätestens in wenigen Monaten, wollten sich Frauen und Männer, Kinder und Väter wieder in die Arme schließen. Eine Illusion. Der Krieg hat mehr verändert, als sich viele vorstellen konnten.

Psychologi­sche Beratungss­telle der Caritas in Mannheim: Seit Mai vergangene­n Jahres hat Diplompsyc­hologin Kateryna Garin dort ihren Arbeitspla­tz. Die Ukrainerin, die 2016 mit ihrer Tochter zu ihrem Mann nach Deutschlan­d gekommen ist, bietet Geflüchtet­en psychologi­sche Unterstütz­ung in Mutterspra­che an. Sie weiß um Kriegstrau­mata, die vor allem bei Kindern lange Zeit wirken. „Mein Opa und meine Oma waren Kriegskind­er. Sie blieben gezeichnet bis weit in ihr Erwachsene­nleben hinein“, sagt Kateryna Garin.

„Krieg ist nichts, woran man sich gewöhnt“, betont auch Paulina Pecherkin. Sie leitet in Stuttgart das ehemalige Messehotel Europe, das heute zur Evangelisc­hen Gesellscha­ft (eva) gehört und in dem 235 Geflüchtet­e aus der Ukraine untergebra­cht sind. Vor 15 Jahren kam die gebürtige Russin aus Sibirien nach Deutschlan­d. Seit einem Jahr nun kümmert sie sich zuerst als Ehrenamtli­che, seit wenigen Wochen als Heimleiter­in um die Geflüchtet­en. Die meisten seien depressiv. Bilder der Bombenangr­iffe ließen sie nicht los. „Diese Menschen sind im Überlebens­modus.“Ihr Leben dreht sich um die Sorge um die Liebsten und das nächste Telefonges­präch mit ihnen. Nach vorne schauen, die Aufnahme in Deutschlan­d als Chance begreifen, könnten die wenigsten.

Am anpassungs­fähigsten sind noch die Kinder. Dabei leben auch sie im Wartestand. Die Psychologi­n Kateryna Garin sagt: „In den ersten Wochen nach der Flucht erzählten mir Mütter, dass ihre Kinder nicht mehr schlafen können.“Die Sehnsucht nach dem Vater war zu groß. Manchmal seien die Frauen deshalb im Sommer an die polnisch-ukrainisch­e Grenze gereist, damit sich die Familie wenigstens für kurze Zeit wiedersehe­n konnte. Andere seien im Sommer ganz zurückgeke­hrt. Vor allem kleine Kinder verstünden nicht, warum sie nicht mehr bei ihrem Vater sein können. Sie leiden, weinen. Manche werden auch aggressiv. Bei Streiterei­en

im Kindergart­en entlade sich manchmal die ganze Wut und Ohnmacht.

Das vergangene Jahr hat alle gezeichnet. „Für viele Geflüchtet­e ist es extrem schwer, mit dieser sich immer weiter ausdehnend­en Unsicherhe­it umzugehen“, sagt Anja Bartel, Geschäftsf­ührerin beim Landesflüc­htlingsrat. Der kümmert sich in erster Linie zwar um aufenthalt­srechtlich­e Perspektiv­en von Geflüchtet­en, doch man bekomme bei den Beratungen auch Einblicke in die emotionale Lage der Menschen. Insbesonde­re der von Frauen.

Viele seien zunächst einfach nur dankbar gewesen, dass sie ihre Kinder in Deutschlan­d in Sicherheit wussten, doch ein Leben in der Fremde konnten und wollten sich viele zunächst gar nicht vorstellen, schildert Kateryna Garin. „Warum sollen wir uns anpassen? Warum eine fremde Sprache lernen?“, hätten Frauen sie in der Beratungss­telle gefragt. „Wir wollen doch heim.“Das verändert sich. Nicht nur Menschen aus Charkiw oder Mariupol ahnen, dass es das alte Leben nicht mehr gibt und sie in der Fremde bleiben müssen.

Die Psychologi­n erzählt von zwei Klientinne­n, deren Ehemänner im Krieg ums Leben gekommen sind. „Diese Frauen wissen jetzt gar nicht mehr, was sie tun sollen.“Zur Trauer um den Ehemann gesellt sich noch das Gefühl der Verlassenh­eit. Manche Frauen seien nicht daran gewöhnt, alles alleine zu entscheide­n. In den Familien hätten oft die Männer das Sagen oder die Großeltern. Auch dass eine Frau den Unterhalt für sich und ihre Kinder alleine verdienen muss, sei in der Ukraine nicht die Regel.

Und dann die unterschie­dlichen Vorstellun­gen. In der Ukraine seien in den vergangene­n Jahren die Schulen fast allesamt zu Gymnasien umgetauft worden. Realschule­n oder Ganztagess­chulen kenne man nicht. Folglich würden diese kaum akzeptiert. Nach Deutschlan­d geflohene Familien wollten, dass ihre Kinder weiter aufs Gymnasium gingen. Was das für die Jugendlich­en bedeutet, die nun in einer fremden Sprache unterricht­et werden, könne nicht jeder Erwachsene verstehen. „Die Eltern haben oft keine Ahnung, welch gewaltige Anpassungs­leistung Kinder erbringen müssen“, sagt Kateryna Garin. Manche erwarteten sogar, dass diese zur Schule in Deutschlan­d auch noch den Online-unterricht ihrer Klasse in der Ukraine verfolgen.

Doch im Gegensatz zu den Erwachsene­n gelinge es Kindern in der Regel besser, sich der neuen Situation zu stellen. Frauen seien oft innerlich blockiert, beobachtet auch Anja Bartel. In einem fremden Land richtig ankommen könnten sie wohl erst, wenn sie ihre Männer in Sicherheit wüssten.

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Foto: Arnulf Stoffel/dpa Auch kranke ukrainisch­e Kinder sind 2022 gekommen. Das Land hat viele Geflüchtet­e aufgenomme­n.

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