Schmerzhafte Ungewissheit
Seit einem Jahr tobt der russische Angriffskrieg. Er hat Familien auseinander gerissen und die Menschen gezeichnet. Über das Überleben in der Fremde.
Die Hoffnung von einer schnellen Rückkehr in das Heimatland hat sich zerschlagen, ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Nach ersten Raketenangriffen am 24. Februar 2022 packten vor allem Frauen in vielen Städten Koffer, um sich in der Fremde in Sicherheit zu bringen. Für kurze Zeit, dachten viele. In Wochen, spätestens in wenigen Monaten, wollten sich Frauen und Männer, Kinder und Väter wieder in die Arme schließen. Eine Illusion. Der Krieg hat mehr verändert, als sich viele vorstellen konnten.
Psychologische Beratungsstelle der Caritas in Mannheim: Seit Mai vergangenen Jahres hat Diplompsychologin Kateryna Garin dort ihren Arbeitsplatz. Die Ukrainerin, die 2016 mit ihrer Tochter zu ihrem Mann nach Deutschland gekommen ist, bietet Geflüchteten psychologische Unterstützung in Muttersprache an. Sie weiß um Kriegstraumata, die vor allem bei Kindern lange Zeit wirken. „Mein Opa und meine Oma waren Kriegskinder. Sie blieben gezeichnet bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein“, sagt Kateryna Garin.
„Krieg ist nichts, woran man sich gewöhnt“, betont auch Paulina Pecherkin. Sie leitet in Stuttgart das ehemalige Messehotel Europe, das heute zur Evangelischen Gesellschaft (eva) gehört und in dem 235 Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht sind. Vor 15 Jahren kam die gebürtige Russin aus Sibirien nach Deutschland. Seit einem Jahr nun kümmert sie sich zuerst als Ehrenamtliche, seit wenigen Wochen als Heimleiterin um die Geflüchteten. Die meisten seien depressiv. Bilder der Bombenangriffe ließen sie nicht los. „Diese Menschen sind im Überlebensmodus.“Ihr Leben dreht sich um die Sorge um die Liebsten und das nächste Telefongespräch mit ihnen. Nach vorne schauen, die Aufnahme in Deutschland als Chance begreifen, könnten die wenigsten.
Am anpassungsfähigsten sind noch die Kinder. Dabei leben auch sie im Wartestand. Die Psychologin Kateryna Garin sagt: „In den ersten Wochen nach der Flucht erzählten mir Mütter, dass ihre Kinder nicht mehr schlafen können.“Die Sehnsucht nach dem Vater war zu groß. Manchmal seien die Frauen deshalb im Sommer an die polnisch-ukrainische Grenze gereist, damit sich die Familie wenigstens für kurze Zeit wiedersehen konnte. Andere seien im Sommer ganz zurückgekehrt. Vor allem kleine Kinder verstünden nicht, warum sie nicht mehr bei ihrem Vater sein können. Sie leiden, weinen. Manche werden auch aggressiv. Bei Streitereien
im Kindergarten entlade sich manchmal die ganze Wut und Ohnmacht.
Das vergangene Jahr hat alle gezeichnet. „Für viele Geflüchtete ist es extrem schwer, mit dieser sich immer weiter ausdehnenden Unsicherheit umzugehen“, sagt Anja Bartel, Geschäftsführerin beim Landesflüchtlingsrat. Der kümmert sich in erster Linie zwar um aufenthaltsrechtliche Perspektiven von Geflüchteten, doch man bekomme bei den Beratungen auch Einblicke in die emotionale Lage der Menschen. Insbesondere der von Frauen.
Viele seien zunächst einfach nur dankbar gewesen, dass sie ihre Kinder in Deutschland in Sicherheit wussten, doch ein Leben in der Fremde konnten und wollten sich viele zunächst gar nicht vorstellen, schildert Kateryna Garin. „Warum sollen wir uns anpassen? Warum eine fremde Sprache lernen?“, hätten Frauen sie in der Beratungsstelle gefragt. „Wir wollen doch heim.“Das verändert sich. Nicht nur Menschen aus Charkiw oder Mariupol ahnen, dass es das alte Leben nicht mehr gibt und sie in der Fremde bleiben müssen.
Die Psychologin erzählt von zwei Klientinnen, deren Ehemänner im Krieg ums Leben gekommen sind. „Diese Frauen wissen jetzt gar nicht mehr, was sie tun sollen.“Zur Trauer um den Ehemann gesellt sich noch das Gefühl der Verlassenheit. Manche Frauen seien nicht daran gewöhnt, alles alleine zu entscheiden. In den Familien hätten oft die Männer das Sagen oder die Großeltern. Auch dass eine Frau den Unterhalt für sich und ihre Kinder alleine verdienen muss, sei in der Ukraine nicht die Regel.
Und dann die unterschiedlichen Vorstellungen. In der Ukraine seien in den vergangenen Jahren die Schulen fast allesamt zu Gymnasien umgetauft worden. Realschulen oder Ganztagesschulen kenne man nicht. Folglich würden diese kaum akzeptiert. Nach Deutschland geflohene Familien wollten, dass ihre Kinder weiter aufs Gymnasium gingen. Was das für die Jugendlichen bedeutet, die nun in einer fremden Sprache unterrichtet werden, könne nicht jeder Erwachsene verstehen. „Die Eltern haben oft keine Ahnung, welch gewaltige Anpassungsleistung Kinder erbringen müssen“, sagt Kateryna Garin. Manche erwarteten sogar, dass diese zur Schule in Deutschland auch noch den Online-unterricht ihrer Klasse in der Ukraine verfolgen.
Doch im Gegensatz zu den Erwachsenen gelinge es Kindern in der Regel besser, sich der neuen Situation zu stellen. Frauen seien oft innerlich blockiert, beobachtet auch Anja Bartel. In einem fremden Land richtig ankommen könnten sie wohl erst, wenn sie ihre Männer in Sicherheit wüssten.