Mein Jahr zwischen den Fronten
Vor einem Jahr änderte sich auch für unseren Moskau-korrespondenten von einem Tag auf den anderen vieles. Eine persönliche Rückschau auf ein Jahr Krieg, vergebliches Warten, mutige Russen und Freunde, die keine mehr sind.
Am Morgen wache ich vom emsigen Gepiepse des Handys auf, draußen hängt hellgrauer Winterhimmel über dem verschneiten Moskau. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die neueste Whatsapp-sprechblase: Eine Bekannte, eine Musiklehrerin aus Omsk, schreibt: „Ich kann es nicht glauben …“Eine böse Vorahnung greift nach mir, ein paar Worte später springt mir der 24. Februar 2022 wie ein irrer Moloch ins Gesicht: Krieg!
Das erste Bild, an das ich mich erinnere, ist ein ukrainisches Handyvideo: Ein Düsenjäger dreht über einer Datschensiedlung eine halsbrecherische Kurve, ein anderer verfolgt ihn. Apokalypse am ukrainischen Himmel. Es folgen Tage und Nächte, in denen ich mich fieberhaft durch russische und ukrainische Telegramkanäle arbeite, durch Bilder abstürzender Hubschrauber, in Plattenbauten einschlagender Raketen, toter Feinde. Und jeden Morgen wache ich aufs Neue in einem Alptraum auf: Die Ukraine ist Schlachtfeld geworden und das russische Publikum draußen zeigt verschlossene, unbeteiligte Gesichter …
Ich lebe in Moskau, ich lebe in einem falschen Frieden und als Journalist eines „unfreundlichen“Landes auf der falschen Seite der Front. Oder zwischen den Fronten. Meine Frau ist Russin, meine Töchter kamen in Tscheboksary an der Wolga zur Welt, aber die Jüngere haben wir in Kiew getauft. Früher habe ich die Moskauer damit gefoppt, Kiewer Bier sei besser.
Ich habe die Russen immer gemocht, auch wenn sie nicht zu Demokraten taugen. Im Gegensatz zu den Ukrainern, die mir auf dem Maidan-platz 2014 sehr altmodisch zeigten, dass man für politische Freiheit auch sein Blut vergießen kann. Jenseits der Politik aber waren auch die Russen fröhlich, optimistisch, vielleicht etwas großspurig, ein sogenanntes junges Volk. Russen lieben das Leben mehr als viele Deutsche. Die Ukrainer auch. Jetzt aber wehren sich die einen wütend gegen die anderen, sie töten und hassen einander, auch in meinem Kopf. Der summt jetzt oft wie ein Smartphone, auf dessen Bildschirm Kriegsvideos ablaufen, während die Kamera ständig eingeschaltet ist, auf der rastlosen Suche nach Anzeichen des Friedens.
Die Kämpfe in der Ukraine haben inzwischen mehrere Wendungen genommen, auch in Kiew gibt es längst wieder Alltag. Viele Szenen in beiden Hauptstädten gleichen sich. Aber wenn auf einem Kiewer Spielplatz eine junge Mutter mit ihrem jubelnden Kind um die Wette rennt, hat das etwas Tapferes. Über Moskaus Spielplätzen schwebt eine andere Fröhlichkeit, mit Gleichgültigkeit und Ignoranz versetzt: Ist doch gar nichts passiert!
Erschütternd viele Russen wollen nichts wissen von der Not und dem Tod in der Ukraine, kennen weder Mitleid noch Empathie. Auch gute Bekannte und alte Freunde scheinen Krieg als blutige Verlängerung russischer Nationalsportarten zu betrachten. Ich begegne hier hunderten Propagandaministern. „Die Ukrainer“, dröhnen sie, „sind Neonazis, ihr Westler Nazis. Ihr wollt uns unsere Bodenschätze abnehmen, unsere Erde, unser russisches Selbst. Schon immer und jetzt erst recht!“
Auch früher hat kaum ein Russe mit mir diskutiert, um Argumente auszutauschen, es ging fast immer ums Rechtbehalten. Jetzt ist diese Rechthaberei boshaft geworden, Lüge und Schmähung sind anerkannte rhetorische Mittel. 18 Jahre war ich mit Mischa, Klempner aus Twer, befreundet, aber vergangenen März krönte er mehrere böse Wortwechsel mit triumphalem Grinsen: „Für dich sind wir ja sowieso Untermenschen!“
Viele Freunde sind verschwunden
Viele Freunde sind verschwunden in diesem Jahr. Die einen antworteten mir per Whatsapp schon aus Tiflis oder Warschau, als ich mich in Moskau mit ihnen zum Kaffee verabreden wollte. Die anderen sind nicht mehr meine Freunde. Dafür lerne ich neue Leute kennen, die den Mut haben, zwei und zwei zu addieren und gegen das Ergebnis fünf zu sein. Vereinzelt, aber immer wieder.
Unbekannte, die meinen Akzent hören, reagieren erstaunt bis erfreut. Jeder Westeuropäer, der noch hier ist, scheint eine gute Nachricht zu sein. Polizisten und Schalterbeamte sind höflich, ein Vertreter des Moskauer Innenministeriums kommt ins Plaudern: „Wollen Sie nicht die russische Staatsbürgerschaft beantragen? Sie könnten auch ins Feld ziehen und direkt aus unseren Schützengräben berichten.“
Als „unfreundlicher“Korrespondent habe ich jetzt mehr Papierkrieg. Akkreditierung und Visum sind kein Jahr mehr, sondern nur noch drei Monate gültig, selbst für die polizeiliche Anmeldung muss man telefonisch um Termine bitten. Alle paar Monate wird jemandem die Verlängerung der Akkreditierung verweigert, erst einer dänischen Kollegin, kürzlich einer Finnin. Wir Korrespondenten ängstigen uns auch, weil im März ein Gesetz erlassen wurde, das für die „Diskreditierung“der Armee bis zu 15 Jahre Haft vorsieht. Neben vielen oppositionellen russischen Journalisten haben amerikanische und britische Kollegen das Land verlassen. Aber ins Gefängnis gehen bisher russische Staatsbürger.
Nur wenige Anzeichen für Frieden
Im Sommer habe ich mich mit einem jungen Gewerkschaftsaktivisten verabredet, er sitzt mit Tränen in den Augen auf der Terrasse eines Cafés: Eine Viertelstunde vor mir ist ein Mann aufgetaucht, der sich als Stefan Scholl, Journalist, ausgab, aber akzentfrei Russisch sprach. Die Polizeispitzel tun sich keinen Zwang mehr an. Und mein entnervter Gesprächspartner will mir lange nicht glauben, dass ich der echte Scholl bin …
Angst vor Gefängnis, Angst vor der NATO, Angst vor der Wahrheit, es gibt jetzt die verschiedensten Arten von Angst. Über eine Million russischer Männer sind im Oktober vor der Mobilmachung ins Ausland oder in den Untergrund geflohen. Was wäre gewesen, frage ich mich manchmal, wenn sie ihre Furcht in Zivilcourage gedreht hätten und in Moskau auf die Straße gegangen wären?
Solche Fragen quälen mich seit dem 24. Februar. Überall in Russland suche ich Anzeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Jedes T-shirt mit der Aufschrift „Antihero“oder „USA“knipst die Kamera in meinem Kopf, auch die Graffiti auf dem Asphalt der Parkwege, wo ich jogge: „Putler ist das Böse.“Der Satz, gemeint ist eine Mischung von Putin und Hitler, war sogar meterhoch auf eine Wellblechwand gesprüht. Auf der Bank darunter machten zwei junge Streifenpolizisten Zigarettenpause. Aber auch das war nur ein Schnappschuss für den Hinterkopf. Nach einem Sommer Guerillakrieg auf meiner Jogging-runde sind alle Putler-sprüche übermalt und die Wellblechwände abgerissen, nachts rollt ein Polizeiwagen durch den Park.
Es ist ein Jahr vergeblichen Wartens gewesen. Russland bewegt sich nicht. Zu Beginn der Mobilmachung ließen sich im September noch einmal ein paar Hundert Tapfere bei Straßenprotesten einsperren, Moskaus Kneipen leerten sich sichtlich, dafür wurde statt Bier mehr Wodka getrunken. Aber jetzt sind die Kneipen wieder gut gefüllt.
Manchmal flackert doch unerwartet Frieden auf. „Wie gut, dass Sie noch da sind“, sagt eine Frau in einem Twerer Treppenhaus und lächelt mich an – ich habe sie vor drei Jahren einmal gesehen. Und dann gesteht sie: „Glauben Sie mir, wir begreifen auch, was passiert.“Ihr Gesicht ist rot geworden, vielleicht, weil sie spürt, dass dieses Geständnis auch wenig ändert.
Momente wahren Glückes gibt es auf der anderen Seite der Front. Am 11. November eroberten die Ukrainer die über acht Monate von Russen besetzte Großstadt Cherson zurück. Die Telegramkanäle auf meinem Notebook zeigten Fahnen schwenkende, vor Freude lachende und weinende Menschenknäuel, die ukrainische Soldaten in die Luft werfen, als hätten sie das Elfmeterschießen im Wm-finale gewonnen. Wenn die Russen zusähen, dachte ich, sie müssten sich an die Jubelszenen in den von den Nazis befreiten russischen Städten vor 80 Jahren erinnern. Und begreifen, dieses Land, diese Nachbarn wollen nicht von uns befreit werden, für die sind wir die Besatzer. Schluss, aus, Frieden! Wir gehen einfach nach Hause! Aber nur meine Frau kommt und macht die Tür zu. Das fremde Glück ist ihr zu laut geworden.
Februar 2023. Draußen hängt der Winter wieder grau über Moskau. Fußgänger trampeln schmutzige Pfade in den Neuschnee, mit Gesichtern voller Alltag. Als gäbe es das große Sterben in der Ukraine noch immer nicht. Auch deshalb wird dieses Sterben weitergehen. Ein Staat, der von solchen Fußgängern bewohnt wird, kann sehr lange Krieg führen. Die Ukrainer aber besiegt er nicht.