Balsam für die geschundene Seele
Der ukrainische Countertenor Roman Melish will mit Liederabenden in seiner Heimat Trost spenden. Er wird dabei von einem Frontsoldaten begleitet. Unterstützung für das Projekt kommt aus der Schweiz.
Die sanften Akkorde verbreiten Geborgenheit. Die helle, knabenhafte Stimme von Roman Melish berührt in ihrer Zerbrechlichkeit. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden“, singt der ukrainische Countertenor innig. „Hast du mein Herz zu warmer Lieb‘ entzunden, hast mich in eine bessre Welt entrückt!“Für diesen besonderen Liederabend am 25. November 2022 mit dem von Franz Schuberts Lied inspirierten Titel „Solospivy yednannia. An die Musik“in der goldglänzenden St. Andreas-kirche in Kiew stehen Dieselgeneratoren bereit, damit bei Stromausfall das von Andriy Vasin gespielte E-piano nicht stumm bleibt. Nur bei Bombenalarm müsste man abbrechen. Aber es bleibt ruhig. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge können sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Ein Stück Normalität im Chaos, ein wenig Balsam für die geschundene Seele.
Bis vor wenigen Tagen hat Taras Stoliar noch an der Ostfront im Donbas gekämpft. Nun sitzt der Soldat im Kampfanzug neben dem Sänger und spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument. Stoliar ist eigentlich professioneller Musiker und spielt im Naoni-orchestra, dem nationalen Orchester für Volksinstrumente. Seit dem Angriff Russlands verteidigt er sein Heimatland. Für das Konzert brauchte er eine Sondererlaubnis der Militärbehörde. „Wir konnten so zeigen, dass auch Musiker als Soldaten für unser Land kämpfen“, sagt Roman Melish.
Sehr berührtes Publikum
Deutsche und ukrainische Lieder hat der Sänger für diesen Liederabend zusammengestellt, der zuvor auch in zwei Konzerten im ehemals russisch besetzten Irpin in einer Bücherei stattfand. „Das Publikum war sehr berührt. Ich habe viele Tränen gesehen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben für die Dauer des Konzertes vergessen,
dass sie Flüchtlinge sind“, erzählt der 34-jährige Sänger.
Dass mitten im Krieg diese deutsch-ukrainischen Liederabende in der Ukraine stattfinden, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von „LIEDBASEL“hat mit Roman Melish zusammen in Basel studiert. Auch in den letzten Jahren, als er wieder in Kiew wohnte, kam der Sänger zu Konzerten in die Schweiz. „Wir waren eher Kollegen als Freunde“, sagt Gäng beim Gespräch in ihrer Heimatstadt Freiburg. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Romans Instagram-profil
furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf.
„Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“Beim Festival „LIEDBASEL“stellt sie mit ihren Mitstreitern das Kunstlied in einen größeren gesellschaftlichen Kontext und geht der Frage nach, was Musik bewirken kann. Der Krieg sei sozusagen der Realitycheck gewesen. Sie sammelte in Basel Spenden für das ambitionierte Vorhaben in der Ukraine, feilte mit Roman am Programm und sprach ihm die deutschen Texte ein, damit er die korrekte Aussprache üben konnte.
Für Roman Melish war das Kunstlied Neuland. Der Countertenor ist auf Alte Musik spezialisiert. Deshalb kam er 2013 nach Basel zum Studium an die Schola Cantorum Basiliensis. 2019 kehrte er in die Ukraine zurück, um dort die historische Aufführungspraxis bekannter zu machen. Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Melish im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. „Ich war total gelähmt und hatte eine unglaubliche Angst.“Überall herrschte Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. Erst am 6. April kehrt er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kiew zurück. Und erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde.
Als Musiker nutzlos im Krieg
Am Anfang habe er sich als Musiker völlig nutzlos im Krieg gefühlt, aber das habe sich geändert. „Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.“Als sich Silke Gäng bei ihm meldete, war er tief berührt – „wie eine Umarmung in diesem furchtbaren Krieg.“Die Unterstützung aus Basel bedeutet ihm viel. „Sie hilft mir, damit ich anderen helfen kann.“Für den nächsten Liederabend könnte er sich einen Auftritt vor Soldaten vorstellen. Oder ein Konzert in Butscha, dem durch das russische Massaker weltweit bekannt gewordenen Ort.