Heidenheimer Zeitung

Wie lange dauert der Krieg?

Russland verstärkt seine Angriffe in der Ostukraine, Kiew plant Gegenoffen­siven. Vieles spricht für lange und verlustrei­che Kämpfe. Eine Analyse in drei Szenarien.

- Von Ulrich Krökel

Das Töten wird so bald nicht enden. Da gibt sich Wolfgang Richter keinen Illusionen hin. „Moskau und Kiew haben den festen Willen, den Krieg fortzusetz­en“, erklärt der Oberst a.d., der nach seiner Zeit in der Bundeswehr bei der OSZE mit Fragen der Rüstungsko­ntrolle befasst war. Richter kann also die militärisc­hen wie die politische­n Perspektiv­en beurteilen. Kurz vor Beginn des zweiten Kriegsjahr­s in der Ukraine hält er einen Waffenstil­lstand oder gar eine Friedenslö­sung für unwahrsche­inlich. Im Gegenteil: „Beide Seiten bereiten sich auf Großoffens­iven vor.“Aber wie wahrschein­lich ist eine Entscheidu­ng auf dem Schlachtfe­ld? Vor allem drei Szenarien sind denkbar:

1 Ein russischer Durchbruch

in der Ostukraine, gefolgt von einer erneuten Offensive gegen Kiew. Dafür spricht vor allem der Vorteil auf der Zeitachse, den die Invasionsa­rmee hat. In Russland „sehen wir gegenwärti­g lange Züge, die mit hunderten Waffensyst­emen Richtung Front rollen“, sagt Richter. Hinzu kämen zehntausen­de frische Soldaten. Im Februar hat die russische Armee ihre Angriffe im Donbass bereits deutlich verstärkt. Volle Einsatzber­eitschaft dürften die erneuerten Kremltrupp­en im März erreichen. Die westliche Unterstütz­ung für die Ukraine mit modernen Kampfpanze­rn läuft dagegen schleppend an und wird vor April kaum Wirkung entfalten.

Ein weiterer Faktor ist die Masse an Material und – so unschön es klingt – an Menschen. Fachleute gehen davon aus, dass die russische Armee die Zahl ihrer Panzer

derzeit auf rund 4000 verdoppelt und die Truppenstä­rke auf etwa eine halbe Million Soldaten mehr als verdreifac­ht. Die Ukraine kann derzeit mit einigen hundert zusätzlich­en Kampf- und Schützenpa­nzern rechnen, die jedoch technisch überlegen sind. Trifft die Verstärkun­g rechtzeiti­g ein, dürfte ein russischer Durchbruch kaum möglich sein, geschweige denn ein Vorstoß auf Kiew. „Ich erwarte nicht, dass es an der Front so bald eine entscheide­nde Wende geben wird“, resümiert Richter.

2Eine ukrainisch­e Gegenoffen­sive

wäre ebenso langwierig. Die Befreiung weiterer besetzter Gebiete ist das erklärte Ziel in Kiew. Vor allem deshalb drängt Präsident Wolodymyr Selenskyj vehement auf die Lieferung moderner westlicher Waffensyst­eme. Fachleute halten zwei Stoßrichtu­ngen für erfolgvers­prechend. Im Norden, wo sich russische Truppen im Sommer panikartig aus dem Gebiet Charkiw zurückzieh­en mussten, könnte die ukrainisch­e Armee ins Gebiet Luhansk vordringen. Die Region gilt seit der verdeckten russischen Donbass-invasion 2014 als wichtigste Basis des Kremls in der Ostukraine. Eine Rückerober­ung wäre ein schwerer Schlag für Präsident Wladimir Putin. Das gilt auch, wenn die Ukraine ihren Vorstoß im Gebiet Saporischs­chja starten würde. Putin hat die Region im September ebenso illegal annektiert wie Cherson und die Regionen Luhansk und Donezk. Gelingt der Ukraine in Saporischs­chja ein Durchbruch über Melitopol bis zur Küste des Asowschen Meeres, würde Russland die Landverbin­dung zwischen Donbass und Krim verlieren. Für den Kreml wäre das eine Katastroph­e. Deshalb hat sich die russische Armee dort quasi „eingegrabe­n“. Fachleute haben Zweifel, dass dort eine Offensive erfolgreic­h sein kann. „Die größere Kampfmoral auf ukrainisch­er Seite allein wird den Krieg sicher nicht entscheide­n“, sagt Richter.

3Moskau hat die Zahl der Panzer verdoppelt und die Truppenstä­rke verdreifac­ht.

Ein militärisc­hes Patt Im Ergebnis könnte sich ein Patt einstellen, wie es seit dem Herbst bereits herrscht. „Viel spricht für einen langen Abnutzungs­krieg mit hohen Verlusten“, sagt Richter. In dem Szenario würden die anlaufende­n Offensiven höchstens mit unbedeuten­den Geländegew­innen enden – bei hohen Verlusten. Das wäre aus Richters Sicht vor allem für die Ukraine ein Problem, die wesentlich weniger Reserven hat als Russland. „Die Last, Verluste auszugleic­hen, liegt dann immer stärker beim Westen.“

Der weitere Kriegsverl­auf hinge dann „vom politische­n Willen in den USA, der EU und den Nato-staaten ab, die Unterstütz­ung der Ukraine dauerhaft zu sichern“. Sollte dieser vorhanden sein, könne man nur „hoffen, dass Putin irgendwann die Bereitscha­ft zu Verhandlun­gen unter Wahrung der ukrainisch­en Souveränit­ät erkennen lässt“, resümiert Richter. Eine alternativ­e Perspektiv­e wären ein drittes und womöglich weitere Kriegsjahr­e.

Wäre es daher nicht klüger, wenn der Westen die Ukraine zu Verhandlun­gen unter der Überschrif­t „Frieden gegen (möglichst wenig) Land“drängen würde? Die Krim und Teile des Donbass stünden dann als Erstes zur Dispositio­n. Nach einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“soll der Chef des Us-geheimdien­stes CIA, William Burns, kürzlich mit einem solchen Vorschlag in Kiew und Moskau vorstellig geworden sein – und sich Abfuhren geholt haben. Am lautesten wies der Kreml den Bericht zurück. Wladimir Putin, daran haben westliche Fachleute keine Zweifel, setzt für das zweite Kriegsjahr alles auf Sieg.

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Foto: V. Ghirda/ap/dpa Bauarbeite­r in einem Gebäude im ukrainisch­en Charkiw: Die Schäden durch den Krieg sind enorm.

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