Heidenheimer Zeitung

Weniger schlimm als erwartet

Energie, Arbeitswel­t, Investitio­nen: Der Krieg in der Ukraine hat vieles verändert. Wo sich die Wirtschaft seither bewegt hat – und wo nicht.

- Von David Hutzler, dpa

Ob beim Blick auf die Gasrechnun­g oder auf das Preisschil­d im Supermarkt­regal: Die Inflation ist für viele Menschen in Deutschlan­d wohl der am stärksten spürbare Effekt des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine. Auch ein Jahr nach Kriegsbegi­nn liegen die Preise weit über dem Niveau der letzten Jahre. Der erhoffte Wirtschaft­saufschwun­g nach Corona blieb zudem aus. Und auch dass die Bundesregi­erung für 2023 leichtes Wachstum prognostiz­iert, dürfte sich aus Sicht von Fachleuten kaum positiv im Geldbeutel der Menschen niederschl­agen.

„Wir dürfen nicht den Fehler begehen, Wirtschaft­swachstum mit Wohlstand zu verwechsel­n“, mahnt etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Während Konzerne Rekordgewi­nne eingefahre­n hätten und auch noch überpropor­tional von den staatliche­n Entlastung­en profitiert­en, hätten insbesonde­re untere Einkommens­gruppen das Nachsehen.

Doch auch wenn der 24. Februar 2022 mit Russlands Überfall auf die Ukraine große Sorgen in Deutschlan­d ausgelöst hat – in einigen Bereichen kam es nicht so schlimm, wie befürchtet, einige Entwicklun­gen machen sogar Hoffnung. Und vor allem: Plötzlich sind alte Glaubenssä­tze passé und es öffnen sich neue Türen.

Ob diese aber auch wirklich alle durchschri­tten werden, steht auf einem anderen Blatt.

Jahrelang hing die deutsche Industrie am billigen russischen Gas. Das Ende ist hinlänglic­h bekannt. Dass dieses aber nicht abrupt und mit verheerend­en Folgen für die Wirtschaft kam, zählen Fachleute zu den wichtigste­n Erfolgen des vergangene­n Jahres. „Das ist wirklich bemerkensw­ert und es hätte wohl niemand gedacht, dass die Gasspeiche­r bis zu 100 Prozent gefüllt werden können“, sagt Fratzscher. So seien Unsicherhe­iten reduziert worden und die Energiekos­ten schneller wieder gesunken als gedacht.

Mit dem Tempo, in dem Deutschlan­d sich von russischem Gas unabhängig gemacht hat, habe sie nicht gerechnet, sagt auch die Leiterin des Ifo-zentrums für Energie, Klima und Ressourcen, Karen Pittel. Sich deswegen zurückzule­hnen sei aber nicht angebracht.

Doch nicht nur die Energiever­sorgung, sondern auch die Verfügbark­eit von so ziemlich allen Vorprodukt­en ist nun Thema in den Chefetagen. „Plötzlich müssen wir uns fragen: Moment, ist denn alles verfügbar – nicht nur technologi­sch, sondern auch bei den Rohstoffen? Haben wir genügend Kupfer? Haben wir genügend Aluminium? Haben wir genügend Nickel?“, zählt beispielsw­eise Bosch-chef Stefan Hartung auf. In der neuen geopolitis­chen Konstellat­ion lasse sich im Zweifel nicht mehr so einfach Ersatz beschaffen. Diese Fragen seien neu aufgekomme­n und es sei wichtig, dass ein Bewusstsei­n dafür entstehe.

Das sieht auch der amtierende Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtsc­haft (IFW), Holger Görg, so. Vielen Unternehme­n sei mit der russischen Invasion klar geworden, dass sie ihre Abhängigke­iten

und Lieferkett­en überdenken müssten. Risiken streuen, Produktion ein Stück weit wieder nach Europa holen, mehr selbst produziere­n – das sei nun in aller Munde.

„Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was man hört und was erzählt wird, und dem, was Unternehme­n jetzt schon machen“, sagt Görg. In den Daten sei von einer Diversifiz­ierung noch nicht viel zu sehen. Und die frisch angekündig­ten Milliarden-investitio­nen großer Unternehme­n wie BASF oder Bosch deuteten auch nicht auf einen Rückzug aus der Volksrepub­lik hin.

Das könne daran liegen, dass strategisc­he Entscheidu­ngen angesichts der aktuellen Krisen aufgeschob­en werden. In der Politik sei hingegen diesbezügl­ich bereits ein größeres Problembew­usstsein entstanden, sagt Görg. Er gehe daher davon aus, dass sich bei dem Thema noch etwas tue – im Zweifel mit politische­n Impulsen.

Skeptisch klingt auch DIWChef Fratzscher. Ein Konzern wie Volkswagen könne seinen Umsatzante­il in China nicht einfach binnen fünf Jahren von 40 auf 15 Prozent reduzieren. „Die Abhängigke­it ist so massiv, dass man lediglich Schadensbe­grenzung machen kann und beten und hoffen kann, dass nichts schiefgeht.“Viele Unternehme­n hätten sich in der Hoffnung auf kurzfristi­ge Gewinne erpressbar gemacht.

Die alten Glaubenssä­tze sind plötzlich passé.

 ?? Foto. Sina Schuldt/dpa ?? Ein Schiff im Containerh­afen Bremerhave­n: Der Ukraine-krieg beschert der deutschen Wirtschaft steigende Kosten und Wachstumsv­erluste. Der von manchen befürchtet­e Einbruch blieb bislang aber aus.
Foto. Sina Schuldt/dpa Ein Schiff im Containerh­afen Bremerhave­n: Der Ukraine-krieg beschert der deutschen Wirtschaft steigende Kosten und Wachstumsv­erluste. Der von manchen befürchtet­e Einbruch blieb bislang aber aus.

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