Weniger schlimm als erwartet
Energie, Arbeitswelt, Investitionen: Der Krieg in der Ukraine hat vieles verändert. Wo sich die Wirtschaft seither bewegt hat – und wo nicht.
Ob beim Blick auf die Gasrechnung oder auf das Preisschild im Supermarktregal: Die Inflation ist für viele Menschen in Deutschland wohl der am stärksten spürbare Effekt des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Auch ein Jahr nach Kriegsbeginn liegen die Preise weit über dem Niveau der letzten Jahre. Der erhoffte Wirtschaftsaufschwung nach Corona blieb zudem aus. Und auch dass die Bundesregierung für 2023 leichtes Wachstum prognostiziert, dürfte sich aus Sicht von Fachleuten kaum positiv im Geldbeutel der Menschen niederschlagen.
„Wir dürfen nicht den Fehler begehen, Wirtschaftswachstum mit Wohlstand zu verwechseln“, mahnt etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Während Konzerne Rekordgewinne eingefahren hätten und auch noch überproportional von den staatlichen Entlastungen profitierten, hätten insbesondere untere Einkommensgruppen das Nachsehen.
Doch auch wenn der 24. Februar 2022 mit Russlands Überfall auf die Ukraine große Sorgen in Deutschland ausgelöst hat – in einigen Bereichen kam es nicht so schlimm, wie befürchtet, einige Entwicklungen machen sogar Hoffnung. Und vor allem: Plötzlich sind alte Glaubenssätze passé und es öffnen sich neue Türen.
Ob diese aber auch wirklich alle durchschritten werden, steht auf einem anderen Blatt.
Jahrelang hing die deutsche Industrie am billigen russischen Gas. Das Ende ist hinlänglich bekannt. Dass dieses aber nicht abrupt und mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft kam, zählen Fachleute zu den wichtigsten Erfolgen des vergangenen Jahres. „Das ist wirklich bemerkenswert und es hätte wohl niemand gedacht, dass die Gasspeicher bis zu 100 Prozent gefüllt werden können“, sagt Fratzscher. So seien Unsicherheiten reduziert worden und die Energiekosten schneller wieder gesunken als gedacht.
Mit dem Tempo, in dem Deutschland sich von russischem Gas unabhängig gemacht hat, habe sie nicht gerechnet, sagt auch die Leiterin des Ifo-zentrums für Energie, Klima und Ressourcen, Karen Pittel. Sich deswegen zurückzulehnen sei aber nicht angebracht.
Doch nicht nur die Energieversorgung, sondern auch die Verfügbarkeit von so ziemlich allen Vorprodukten ist nun Thema in den Chefetagen. „Plötzlich müssen wir uns fragen: Moment, ist denn alles verfügbar – nicht nur technologisch, sondern auch bei den Rohstoffen? Haben wir genügend Kupfer? Haben wir genügend Aluminium? Haben wir genügend Nickel?“, zählt beispielsweise Bosch-chef Stefan Hartung auf. In der neuen geopolitischen Konstellation lasse sich im Zweifel nicht mehr so einfach Ersatz beschaffen. Diese Fragen seien neu aufgekommen und es sei wichtig, dass ein Bewusstsein dafür entstehe.
Das sieht auch der amtierende Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IFW), Holger Görg, so. Vielen Unternehmen sei mit der russischen Invasion klar geworden, dass sie ihre Abhängigkeiten
und Lieferketten überdenken müssten. Risiken streuen, Produktion ein Stück weit wieder nach Europa holen, mehr selbst produzieren – das sei nun in aller Munde.
„Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was man hört und was erzählt wird, und dem, was Unternehmen jetzt schon machen“, sagt Görg. In den Daten sei von einer Diversifizierung noch nicht viel zu sehen. Und die frisch angekündigten Milliarden-investitionen großer Unternehmen wie BASF oder Bosch deuteten auch nicht auf einen Rückzug aus der Volksrepublik hin.
Das könne daran liegen, dass strategische Entscheidungen angesichts der aktuellen Krisen aufgeschoben werden. In der Politik sei hingegen diesbezüglich bereits ein größeres Problembewusstsein entstanden, sagt Görg. Er gehe daher davon aus, dass sich bei dem Thema noch etwas tue – im Zweifel mit politischen Impulsen.
Skeptisch klingt auch DIWChef Fratzscher. Ein Konzern wie Volkswagen könne seinen Umsatzanteil in China nicht einfach binnen fünf Jahren von 40 auf 15 Prozent reduzieren. „Die Abhängigkeit ist so massiv, dass man lediglich Schadensbegrenzung machen kann und beten und hoffen kann, dass nichts schiefgeht.“Viele Unternehmen hätten sich in der Hoffnung auf kurzfristige Gewinne erpressbar gemacht.
Die alten Glaubenssätze sind plötzlich passé.