Heidenheimer Zeitung

Sportliche Schlüsselr­olle

Im Kampf gegen Russland helfen auch viele Athletinne­n und Athleten des Landes an verschiede­nen Fronten. Sie übernehmen eine wichtige Aufgabe für die politische Führung.

- Von F. Schröder und J. Soldwisch, dpa

In Gedanken ist Igor Schewadsuz­kij schon bei seinem bevorstehe­nden Kampf, als ihn Raketen aus dem Schlaf reißen. Langsam begreift der ukrainisch­e Boxer in seinem Kiewer Wohnhaus, was an diesem 24. Februar 2022, als Russland in den Morgenstun­den die Ukraine attackiert, überhaupt passiert.

„Ich dachte, ich hätte irgendetwa­s nicht richtig wahrgenomm­en und wäre noch im Halbschlaf, als ich hörte, wie eine Rakete am Haus vorbeiflog“, sagt der Schwergewi­chtler. „Ich schaute im Internet, und mir wurde der Ernst der Lage bewusst.“Seit einem Jahr schon dauert der Krieg in seinem Heimatland an – mit weitreiche­nden Folgen auch für Spitzenspo­rtler wie ihn. Schewadsuz­kijs geplanter Boxkampf in Hamburg gegen Kevin Johnson (USA) zwei Tage nach Kriegsausb­ruch wurde verschoben. Der Profi vom Hamburger Ecb-boxstall musste plötzlich bei der Verteidigu­ng seines Lands helfen.

Hochspring­erin Jaroslawa Mahutschic­h harrte nach den ersten Bomben mehrere Tage im Keller aus, machte sich dann auf einen abenteuerl­ichen Weg zur Hallenwm in Belgrad und wurde dort im März Weltmeiste­rin. Stolz präsentier­te sie die gelb-blaue Flagge, genau wie Schwimmer Michailo Romantschu­k bei der WM 2022 in Budapest. Ihre Botschaft lautet: Der Krieg geht auch den Sport etwas an. Die früheren Boxstars Vitali Klitschko, Kiews Bürgermeis­ter, und sein Bruder Wladimir zeigen ohnehin, wie eng beides miteinande­r verbunden sein kann. „Wenn Leute sagen,

Sport ist nicht Politik, ist das nicht richtig. Sport ist die größte Politik“, sagte Schwimmer Romantschu­k, der nach Kriegsausb­ruch von seinem deutschen Rivalen Florian Wellbrock eingeladen wurde, in Magdeburg zu trainieren. So viel Glück hatten andere nicht. Sportler wie Extennispr­ofi Sergej Stachowski, Ex-biathlon-weltmeiste­r Dmytro Pidrutschn­ji und Ex-fußballer Igor Belanow, 1986 Gewinner des Ballon d‘or, kämpften im Krieg.

Unter anderem der Biathlet Jewhen Malyschew, die Fußballpro­fis Witali Sapylo sowie Dimitri Martynenko und der Kampfsport­ler Alexei Yanin starben bei den Gefechten. Doch in der Regel sollen die ukrainisch­en Leistungss­portler nicht an die Front, sondern auf die Sportbühne, um

auf dieser Ebene den politische­n Druck aufrechtzu­erhalten. Fußball-nationalsp­ieler Oleksandr Sintschenk­o zum Beispiel warnte öffentlich­keitswirks­am: „Wir müssen den Krieg stoppen. Denn heute ist es die Ukraine, morgen kann es Ihr Land sein.“Der Skeletoni Wladislaw Heraskewit­sch forderte eine lebenslang­e Sperre für Athleten, die Russlands Angriff öffentlich unterstütz­en.

Der Schwergewi­chtsweltme­ister Oleksandr Usyk, der selbst zum Maschineng­ewehr gegriffen und sich zeitweise in Kiew einer Freiwillig­en-einheit angeschlos­sen hat, positionie­rt sich klar gegen den IOC-PLAN, die russischen und belarussis­chen Athleten wieder bei internatio­nalen Wettkämpfe­n starten zu lassen: „Die Medaillen, die russische Sportler

gewinnen werden, sind Medaillen aus Blut, Tod und Tränen.“

„Ich bin stolz auf jeden Einzelnen. Weil sie trainieren und antreten, während Raketen auf uns niedergehe­n, unsere Städte bombardier­t werden, ihre Mütter und Väter sterben, sie ihre Häuser oder Wohnungen verlieren, ihr

Zuhause verlieren“, sagte der ukrainisch­e Sportminis­ter Wadym Hutzajt. „Sie zeigen allen, dass wir eine starke Nation sind.“

Eine ähnliche Wirkung hob auch Sportsozio­loge Jan Haut von der Uni Wuppertal hervor. Sportliche Erfolge könnten „bei Teilen der Bevölkerun­g den Glauben an die eigenen Fähigkeite­n außerhalb des Sports, vielleicht auch die militärisc­hen“stärken, meinte der Forscher. Boxer Schewadsuz­kij, der wie Präsident Wolodymyr Selenskyj in der südlichen Stadt Krywyj Rih aufgewachs­en war, ist froh, dass Sportler wie Usyk in dieser Frage Flagge zeigen. „Es verdeutlic­ht: Wir werden niemals aufgeben und egal, was kommt, werden wir immer auf der Seite der Ukraine stehen.“

Noch am Tag des Kriegsausb­ruchs hatte er versucht, mit seiner Frau und seinem Trainer im Auto das Land zu verlassen. An der ukrainisch-rumänische­n Grenze war Schluss für die Männer. Der Boxer stellte sich fortan in den Dienst des Landes. „Wir haben Bewohner evakuiert, haben Lebensmitt­el und Kleidung transporti­ert. Wir haben den Soldaten Wasser und Essen gebracht.“Er selbst hat zwar nicht als Soldat direkt im Krieg gekämpft, aber viele seiner Freunde. Einige überlebten es nicht. Als Mitte Januar ein Hochhaus in der ukrainisch­en Stadt Dnipro von einer russischen Rakete zerstört wurde, starb Schewadsuz­kijs ehemaliger Trainer. Auf die Frage, wie er mit den vielen schlimmen Nachrichte­n umgehe, antwortete Schewadsuz­kij nachdenkli­ch. „Bei den ganzen Sirenen, Bomben und vielen Verletzten sowie Toten fühlst du dich irgendwann wie in der Luft schwebend – und du kommst einfach nicht mehr auf den Boden zurück.“Doch irgendwie muss es weitergehe­n. Den nachgeholt­en Kampf gegen Johnson gewann Igor Schewadsuz­kij im August nach Punkten.

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Foto: J. Bott/dpa Sehr erfolgreic­h: Jaroslawa Mahutschic­h siegte im September in Zürich mit 2,03 Metern.
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Foto: Axel Heimken/dpa Schwierige Kämpfe: Boxer Igor Schewadsuz­ki.

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