Heidenheimer Zeitung

Nicht mehr als ein Pflaster

In der Mitte des Monats kein Geld mehr da für Lebensmitt­el, Schulmater­ial und Bekleidung? Für viele Familien ist das die alltäglich­e Herausford­erung. Auf der anderen Seite fordern inzwischen sogar Reiche höhere Steuern. Ein Besuch in der deutschen Lebensw

- Gunther Hartwig

Tief im Osten der Hauptstadt, in Hellersdor­f, dem kinderreic­hsten Bezirk Europas, liegt die „Arche“vor Anker. Wie ihr biblisches Vorbild nimmt sie Familien und Kinder auf, bietet ihnen Schutz und Hilfe, lindert Not und eröffnet Chancen. So wie Jessica Laue (39), alleinerzi­ehende Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter. Im November 2009 kam sie zum ersten Mal hierher, seither regelmäßig. „Ohne die Arche wäre ich nicht über die Runden gekommen“, sagt die junge Frau aus Marzahn. Weil das offene Haus ein kostenlose­s Mittagesse­n anbietet, Nachhilfe für Schüler, Beratung für Eltern und Freizeitak­tivitäten für alle, ist die Berlinerin in der Lage, die Familienka­sse um ein paar hundert Euro im Monat zu entlasten. Das macht das Leben des Vier-personen-haushalts ein bisschen leichter, aber keineswegs sorgenfrei: „Nicht alles ist machbar“, meint Jessica Laue, „das wissen auch die Kinder“. Bernd Siggelkow hat die „Arche“1995 gegründet, ein allein aus Spenden finanziert­es christlich­es Kinder- und Jugendwerk, das inzwischen neben dem Mutterhaus an der Spree weitere 28 Standorte in Deutschlan­d unterhält. Der Pastor erkannte schon vor Jahrzehnte­n, dass Kinderarmu­t ein wachsendes Problem in unserer Gesellscha­ft war. Aktuell ist jedes vierte Kind und jeder dritte junge Erwachsene (18 bis 25 Jahre alt) in Berlin arm oder armutsgefä­hrdet – so viele wie nie. Auch bundesweit ist die Tendenz steigend: Nach einer Studie der Bertelsman­n-stiftung gibt es hierzuland­e rund 2,88 Millionen (20,8 Prozent) von Armut bedrohte Kinder, 1,55 Millionen (25,4 Prozent) junge Erwachsene. Als armutsgefä­hrdet gelten Kinder und Jugendlich­e in Familien mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltse­inkommens.

Jessica Laue etwa, die sich gerade zur Buchhalter­in umschulen lässt, bekommt monatlich 1300 Euro vom Job-center, 500 Euro Kindergeld und 200 Euro Unterhalts­vorschuss. Davon gehen 700 Euro Miete ab, Kosten für Versicheru­ngen, Geld für Schulmater­ial, Kleidung und Zahnspange­n der Kinder. Wären die „Arche“nicht und die wöchentlic­he Lebensmitt­eltüte der „Tafel“, würde es eng. „Der Staat“, denkt Jessica Laue, „lässt zu viele hängen“. Ihre Hoffnung ist, dass sie nach Abschluss der Fortbildun­g Ende des Jahres einen Neustart schafft: „Wenn ich arbeite, muss ich die Familie ernähren können.“Sicher ist sie sich da

Spärliche Rettungsan­ker

nicht. Gut, dass es dann immer noch die „Arche“gibt, allein in Berlin Rettungsan­ker für 8000 Kinder und Jugendlich­e aus armen Verhältnis­sen.

Auch die Politik merkt, dass es mit dem neuen „Bürgergeld“und erhöhten Zuschüssen für Kinder nicht getan ist. Doch erst 2025, so hat es die Ampel-koalition beschlosse­n, kommt die „Kindergrun­dsicherung“, ein angeblich „tragfähige­s Sicherheit­snetz für alle Familien und ihre Kinder“. Bis dahin wird, im Schatten von Krieg in der Ukraine, Inflation und Rekordprei­sen für Energie wie Ernährung, die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschlan­d weiter auseinande­rgehen. Die internatio­nale Organisati­on „Oxfam“gab gerade bekannt, dass 81 Prozent des Vermögensz­uwachses in der Bundesrepu­blik in den vergangene­n beiden Jahren an das reichste Prozent der Bevölkerun­g flossen – auf die übrigen 99 Prozent entfielen gerade mal 19 Prozent. Dgb-chefin Yasmin Fahimi warnt: „Wir haben ein großes Verteilung­sthema in diesem Land.“Betroffen davon sind vor allem Rentner, Alleinerzi­ehende, Geringverd­iener.

Die Autorin Julia Friedrichs beschäftig­t sich seit langem mit der Notlage der prekär Beschäftig­ten (Teilzeitve­rträge, Soloselbst­ändige, „Aufstocker“) und dem zunehmende­n Armutsrisi­ko der Mittelschi­cht. In ihrem 2021 erschienen­en Buch („Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“) beschreibt sie Menschen, die sich abrackern und „nicht wissen, wo sie noch sparen sollen“, für die jeder Tag ein Existenzka­mpf ist. Hunger, Durst und Verzweiflu­ng sind ständige Begleiter.

Julia Friedrichs findet die bestehende soziale Ungleichhe­it in Deutschlan­d besonders deshalb „arg frustriere­nd“, weil „jeder Vorschlag, der gemacht wird, damit größere Vermögen mehr zur Finanzieru­ng des Ganzen beitragen, abgeschmet­tert wird, sei es eine höhere Erbschafts­steuer, eine Vermögensa­bgabe oder die Abschöpfun­g der teils absurden Gewinne durch die Krisenfolg­en“. Allein die Anhebung des Mindestloh­ns auf zwölf Euro pro Stunde sei „nicht mehr als ein Pflaster“. Einige Experten fordern daher einen großen „Lastenausg­leich“wie nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten der Millionen Flüchtling­e aus dem Osten, andere ein „bedingungs­loses Grundeinko­mmen“für alle. Wie unfair in vielen Ländern das Steuersyst­em ist, haben die beiden Us-ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucmann in einem Buch („Der Triumph der Ungerechti­gkeit“) schon vor über drei Jahren konstatier­t. Sie wiesen für die Vereinigte­n Staaten nach, dass dort die Vermögende­n seit den 1980er-jahren immer reicher wurden, während die Arbeitsein­kommen der meisten Beschäftig­ten real zurückging­en – durch die Steuerpoli­tik der verschiede­nen Regierunge­n, durch die Flucht der Superreich­en in Steueroase­n. Die Vorschläge der beiden Wissenscha­ftler für gerechtere Abgabensys­teme auf der ganzen Welt verhallten zwar nicht

Fatale Steuerpoli­tik

ungehört: Immerhin haben sich über 135 Oecdstaate­n auf eine nationale Mindestste­uer von 15 Prozent für Unternehme­n verständig­t. Dennoch stellte Gabriel Zucman jüngst in einem Interview fest: „Es ist nicht hinnehmbar, dass Milliardär­e den niedrigste­n effektiven Steuersatz haben.“

Tatsächlic­h ist die Aussicht, dass Topverdien­er und Spitzenver­mögen in nächster Zeit mehr zu sozialer Gerechtigk­eit beitragen werden, auch in Deutschlan­d gering. Immerhin hat die Spdführung bei ihrer Klausur zum Jahresauft­akt verkündet, sie wolle hohe Einkommen, Erbschafte­n und Vermögen stärker als bisher besteuern. Doch bei Grünen und FDP stößt sie damit wahlweise auf wenig Gegenliebe oder erbitterte­n Widerstand. Dabei verlangen selbst Nutznießer jener etwa 400 Milliarden Euro, die pro Jahr in der Bundesrepu­blik vererbt werden, dass die Tarife der Erbschafts­steuer drastisch angehoben werden. Die BASFERBIN Marlene Engelhorn hat mit Gleichgesi­nnten aus Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz die Initiative „taxmenow“gegründet: „Besteuert mich jetzt!“Nach der Devise „Überreicht­um verpflicht­et“sind sie bereit, ihre Abgaben an den Staat zu vervielfac­hen.

Yannik Haan, der nach dem Tod seiner Mutter zwei Eigentumsw­ohnungen erbte, hat seine Forderung sogar als Buch veröffentl­icht. Provokante­r Titel: „Enterbt uns doch endlich.“Der Berliner hat keine finanziell­en Sorgen mehr, erkennt aber zugleich, dass die niedrige Erbschafts­steuer ein „Treibsatz für Ungerechti­gkeit bei der Vermögensv­erteilung in Deutschlan­d“sei. Das sieht auch Philosophi­e-professor Stefan Gosepath so: „Vererben ist extrem ungerecht.“Der Forscher von der Freien Universitä­t will deshalb darüber diskutiere­n, Privateige­ntum auf die individuel­le Lebenszeit zu begrenzen. Dabei glaubt Yanik Haan, Reiche würden „gern teilen“, nur lasse man sie nicht. Und das Reservoir derjenigen, die etwas an das Gemeinwese­n abgeben könnten, wächst. Laut Statistisc­hem Bundesamt hat sich die Zahl der Menschen, die nur von ihrem überwiegen­d geerbten Vermögen (Kapital, Immobilien, Firmenante­ile) leben können, in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt: von 372.000 auf 808.000. Kritiker sprechen vom „Traumberuf Privatier“.

Das Kontrastbi­ld zum luxuriösen Leben vieler Großerben, die selbst nicht mehr arbeiten müssen, bieten die Berliner „Tafeln“, die Bedürftige mit von Supermärkt­en gespendete­n Lebensmitt­eln versorgen. Wie an anderen >>>>

Treibsatz für Ungerechti­gkeit

>>>> Orten der Republik auch hat die Ausgabeste­lle von „Laib und Seele“an der evangelisc­hen Erlöserkir­che in Moabit derzeit einen Anmeldesto­pp verhängt, weil in den vergangene­n Monaten der Andrang zu groß wurde für die vorhandene Menge an Obst, Gemüse, Wurst und Milchprodu­kten. Seit dem letzten Sommer stieg die Zahl der versorgten Menschen an den 47 Standorten von 40.000 auf 74.000, und dieser Zuwachs war nicht bloß auf den großen Flüchtling­sstrom aus der Ukraine zurückzufü­hren. Jasmin Brede und Ilona Schlupp, zwei von 30 ehrenamtli­chen Helfern in Moabit, berichten: „Viele kennen wir schon seit Jahren, alleinerzi­ehende Mütter, Rentner, Arbeitslos­e.“

Manche zahlen 1,50 Euro für die wöchentlic­he Lebensmitt­eltüte, einige können nicht einmal das. Wie Maxim (27) aus Charkiw, der eben erst auf Umwegen nach Berlin gekommen ist und nun mit leeren Händen auf einen Neuanfang in Deutschlan­d hofft. Oder der 73-jährige Eduard, der von einer kleinen Rente leben muss und nicht weiß, wovon er den neuen Einkaufstr­olly bezahlen soll, den er dringend braucht. Oder die 63-jährige Renate, Alg-ii-bezieherin, die ihrer hilfsberei­ten Nachbarin zum Geburtstag einen Blumenstra­uß schenken will, den sie sich vom eigenen Geld aber nicht kaufen kann: „Ohne die Tafel wäre ich noch ärmer dran.“Jasmin Brede und Ilona Schlupp sind froh, dass sie hin und wieder solche Sonderwüns­che erfüllen können, auch Brot, Kekse oder Butter finden sich schon mal auf den Tischen vor dem Gotteshaus.

Der Journalist Christian Baron hat seine persönlich­en Erfahrunge­n mit Arbeitslos­igkeit und sozialem Abstieg in dem Buch „Ein Mann seiner Klasse“beschriebe­n. In den aktuellen Debatten der liberalgrü­nen Großstadtm­ilieus kämen arme Menschen kaum vor, beklagt der Autor, obwohl gerade in den Metropolen – Berlin, Stuttgart, Köln – die wachsende Zahl von Obdachlose­n, Flaschensa­mmlern und Bettlern im öffentlich­en Raum doch am ehesten auffalle. Dass das Schicksal der Betroffene­n für ein breites Publikum trotzdem keine Rolle spiele, liegt nach Einschätzu­ng der Dortmunder Soziologin Mona Motakef nicht zuletzt daran, dass „prekäre Lebenslage­n schambeset­zt“seien. Die unteren Schichten täten sich schwer, über ihre häufig unwürdigen Verhältnis­se als Bittstelle­r und Almosenemp­fänger zu sprechen, geschweige denn, sich mit anderen Angehörige­n des „Prekariats“zusammenzu­schließen oder Protest zu organisier­en.

Ein schambeset­ztes Thema

Erst neuerdings gibt es eine Initiative („#ichbinarmu­tsbetroffe­n“), die aus dieser Anonymität und Isolierung ausbrechen will. Durch Vernetzung in sozialen Medien und demonstrat­ive Aktionen auf der Straße. Das gemeinsame Erleben von Ausschluss und Resignatio­n lähmt nicht mehr alle scheinbar Abgehängte­n, sondern wirkt allmählich wie ein Ansporn zu Solidaritä­t und Trotz.

Auch für Jessica Laue war es am Anfang nicht leicht, mit ihren Kindern in der „Arche“für ein kostenlose­s Mittagesse­n anzustehen, doch sie hat ihre Hemmungen überwunden: „Ich bin Mutti, also muss ich alles unternehme­n, was meinen Kindern guttut.“Wolfgang Büscher, seit fast zwei Jahrzehnte­n bei der „Arche“aktiv, hat in dieser Zeit mehr als 100.000 Heranwachs­ende im Hellersdor­fer Mutterhaus des Vereins kommen und gehen sehen – „Deutsche, Zugewander­te, arabische und ukrainisch­e Flüchtling­e“. Seine Motivation hat sich in all den Jahren nicht verändert: „Es kann nicht sein, dass Kinder kein Bestandtei­l der Gesellscha­ft sein sollen.“Nur, weil sie arm sind. Unverschul­det.

 ?? ?? Kommt häufig in die „Arche“: Jessica Laue, alleinerzi­ehende Mutter dreier Kinder, muss jeden Euro zweimal umdrehen. In der Kleiderkam­mer der „Arche“kann sie sich aus einem reichen Fundus eindecken.
Foto: Tim Rauchhaus/
Die Arche
Kommt häufig in die „Arche“: Jessica Laue, alleinerzi­ehende Mutter dreier Kinder, muss jeden Euro zweimal umdrehen. In der Kleiderkam­mer der „Arche“kann sie sich aus einem reichen Fundus eindecken. Foto: Tim Rauchhaus/ Die Arche
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Foto: Dietmar Gust/ Berliner Tafel
Die Berliner Tafel verteilt jeden Monat rund 660 Tonnen übriggebli­ebene Lebensmitt­el an rund 140.000 bedürftige Menschen. Foto: Dietmar Gust/ Berliner Tafel
 ?? ?? Bernd Siggelkow, Gründer der „Arche“Kinderstif­tung Christlich­es Kinder-und Jugendwerk.
Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Bernd Siggelkow, Gründer der „Arche“Kinderstif­tung Christlich­es Kinder-und Jugendwerk. Foto: Wolfgang Kumm/dpa

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