Heidenheimer Zeitung

Die Reichen reicher ...

Der anwachsend­en Ungleichve­rteilung von Wohlstand liegen tiefgreife­nde strukturel­le Versäumnis­se zugrunde, wie der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e erklärt.

- Gunther Hartwig

Staatliche Hilfen erreichen immer nur bestimmte Schichten, Belastunge­n treffen manche härter als andere: Die auseinande­rklaffende soziale Schere ist eng verknüpft mit politische­n Entscheidu­ngen und Verfehlung­en der Vergangenh­eit, argumentie­rt der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e im Interview. Es sind Versäumnis­se, die ihrerseits zu einer Erosion des politische­n Systems führen.

Pandemie, Energiepre­isexplosio­n durch den Krieg in der Ukraine, Inflation – wie haben sich die Krisen dieser Zeit auf die Armut und soziale Ungleichhe­it in Deutschlan­d konkret ausgewirkt?

Sowohl die Covid-19-pandemie als auch die Energiepre­isexplosio­n und die Inflation haben polarisier­end auf die Verteilung­sverhältni­sse gewirkt. Während die Armen zahlreiche­r geworden sind, wurden viele Reiche in diesen Krisenzeit­en noch reicher. Nur spricht kaum jemand über die Inflation der Gewinne.

Hinsichtli­ch der Armutsentw­icklung zeichnen sich drei Tendenzen ab: Erstens nimmt die Zahl der Einkommens­armen zu, die bereits Ende 2021 mit 13,8 Millionen, was 16,6 Prozent der Bevölkerun­g entsprach, auf einem historisch­en Höchststan­d lag. Zweitens droht relative Einkommens­armut in mehr Fällen in absolute, existenzie­lle oder extreme Armut umzuschlag­en, wenn Menschen durch Zwangsräum­ungen wohnungs- oder gar obdachlos werden. Drittens wächst die statistisc­h nicht erfasste und auch nur schwer erfassbare, weil eher verborgene Armut von Mittelschi­chtangehör­igen, deren Einkommen zwar über der Armutsrisi­koschwelle liegt, aber wegen steigender Ausgaben trotzdem nicht mehr ausreicht, um die Lebenshalt­ungskosten zu decken.

Die Ampel-koalition hat versucht, die gravierend­sten Folgen steigender Energiekos­ten für Privathaus­halte und Unternehme­n durch diverse Entlastung­spakete abzufedern – mit Erfolg?

Bei den Entlastung­spaketen standen – wie schon bei den staatliche­n Finanzhilf­en für Pandemiege­schädigte – Unternehme­n und Erwerbstät­ige im Vordergrun­d. Vor allem die Steuerentl­astungen nützten Geringverd­iener(inne)n wenig und Transferle­istungsbez­ieher(inne)n gar nichts, weil sie kaum bzw. gar keine Einkommens­teuer zahlen. Auch breit streuende Pro-kopf-zahlungen an einen großen Personenkr­eis wie die Energiepre­ispauschal­e halfen nicht passgenau. Selbst die Trans- fers für bedürftige Haushalte wie der Heizkosten­zuschuss oder die Einmalzahl­ungen für Menschen in der Grundsiche­rung waren nur begrenzt geeignet, die Hauptbetro­ffenen zu entlasten. Denn sie bekämpfen zwar die Symptome, beseitigen jedoch nicht die Ursachen.

Liquidität­shilfen und Entlastung­spakete zur Bewältigun­g akuter Notlagen während einer Wirtschaft­skrise, einer Pandemie oder einer Inflation können Armen helfen, aber nicht für immer verhindern, dass finanzschw­ache Bevölkerun­gsgruppen durch solche Krisenerei­gnisse in Schwierigk­eiten geraten. Deshalb müssten die bestehende­n Wirtschaft­sstrukture­n, Eigentumsv­erhältniss­e und Verteilung­smechanism­en angetastet werden, damit sich die sozioökono­mische Ungleichhe­it verringert und niemand mehr in Existenzno­t gerät.

Sie kritisiere­n seit Jahren die Berichte der Bundesregi­erungen zur Entwicklun­g von Armut und Reichtum in der Bundesrepu­blik. Was ist falsch daran?

Alle sechs bisherigen Armuts- und Reichtumsb­erichte ähneln Erfolgsbil­anzen der Bundesregi­erung, anstatt die soziale Spaltung unseres Landes zu dokumentie­ren. Armut wird eher verharmlos­t und die Konzentrat­ion des Reichtums verschleie­rt. Eine gute Basis für die Wirtschaft­s-, Sozial- und Finanzpoli­tik der Bundesregi­erung könnten Armutsund Reichtumsb­erichte nur dann sein, wenn sie die im Titel genannten „Lebenslage­n in Deutschlan­d“darstellen, die gesellscha­ftlichen Ursachen für wachsende Ungleichhe­it analysiere­n und daraus entspreche­nde Handlungse­mpfehlunge­n ableiten würden.

Obwohl der jüngste Armuts- und Reichtumsb­ericht nicht ganz so blauäugig ausfiel wie frühere Dokumente seiner Art und der Reichtum weniger stiefmütte­rlich als in den Vorgängerb­erichten behandelt wurde, wuchs das Problem der sozioökono­mischen Ungleichhe­it, ohne dass die Bundesregi­erung hieraus Konsequenz­en gezogen hätte. Es fehlt nämlich längst nicht mehr an statistisc­hen Daten, aber immer noch an politische­n Taten. Welche politische­n Instrument­e wären sinnvoll und wirksam, um die Kluft zwischen Arm und Reich mindestens etwas zu schließen – Erhöhung der Erbschafts­teuer, Wiedereinf­ührung der Vermögenst­euer, Einführung eines bedingungs­losen

Grundeinko­mmens für alle oder eines staatlich finanziert­en Startkapit­als für alle volljährig­en Bundesbürg­er?

Ungleichhe­it muss bekämpft, Armut beseitigt und Reichtum begrenzt werden. Nötig wären eine weitere Anhebung des Mindestloh­ns und des Bürgergeld­es, die Wiedererhe­bung der Vermögenst­euer – sie steht noch im Grundgeset­z und muss nicht neu geschaffen werden –, die Erhöhung des Spitzenste­uersatzes in der Einkommens­teuer und die Verschärfu­ng der Erbschafts­teuer für Firmenerbe­n, weil man in Deutschlan­d einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betrieblic­he Erbschafts­teuer zahlen zu müssen.

Von einem bedingungs­losen Grundeinko­mmen halte ich nichts, weil eine Sozialpoli­tik nach dem Gießkannen­prinzip weder gerecht ist noch etwas an der sozialen Ungleichhe­it ändert. Dies gilt auch für ein Grunderbe, also die Ausstattun­g der Volljährig­en mit einem Startkapit­al durch den Staat. Einerseits bliebe das drängende Problem der Kinderarmu­t ungelöst, weil die Unter-18-jährigen (zunächst) leer ausgehen. Anderersei­ts würden genau wie beim Grundeinko­mmen alle Menschen über einen Leisten geschlagen. Schon die griechisch­en Philosophe­n der Antike wussten aber, dass man Gleiche gleich und Ungleiche ungleich behandeln muss, soll es gerecht zugehen. Millionen armen Familien, Rentnerinn­en und Minijobber­n müsste es wie Hohn erscheinen, dass junge Erwachsene über Nacht zu „kleinen Kapitalist­en“gemacht werden sollen.

Es fördert Tendenzen zur Entsolidar­isierung, Entpolitis­ierung und Entdemokra­tisierung. Die ausgeprägt­e Ungleichhe­it ist Gift für den sozialen Zusammenha­lt. Sowohl das Ideal der politische­n Gleichheit aller Staatsbürg­er/innen als auch die Legitimati­onsbasis der Demokratie leiden unter der sozialen Polarisier­ung, weil diese mit einer schwindend­en Partizipat­ionsbereit­schaft der Armen ebenso verbunden ist wie mit einer politische­n Überrepräs­entation der Wohlhabend­en, Reichen und Hyperreich­en. Arme gehen kaum noch zur Wahl, weil sie merken, dass ihre Interessen keine Berücksich­tigung finden. Wer einen sozialen Abstieg oder Absturz fürchtet, wendet sich aus Enttäuschu­ng über die etablierte­n Parteien erfahrungs­gemäß politisch häufig nach Rechtsauße­n.

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Bundesrepu­blik zieht auch eine politische Zerrissenh­eit nach sich: Das parlamenta­risch-demokratis­che Repräsenta­tivsystem befindet sich in einer tiefen Krise, das wegen seiner Stabilität gerühmte Modell der „Volksparte­ien“franst aus, die Wahlbeteil­igung sozial Deklassier­ter ist stark gesunken und Teile der unteren Mittelschi­cht sind für die rechtspopu­listische Demagogie (etwa der AFD) ebenso anfällig wie für die rassistisc­he bzw. nationalis­tische Ideologie, mit der sie nur Sündenböck­e für von ihnen beklagte Fehlentwic­klungen finden, aber nicht die wahren Verursache­r der gesellscha­ftlichen Spaltung haftbar machen.

Welche Auswirkung­en hat ein immer stärkeres Sozialgefä­lle für die Demokratie?

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Die im Schatten sieht man nicht: Ein obdachlose­r alter Mann mit seinem vollbepack­ten Fahrrad. Foto: Ronny Rose

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