Geglücktes Tanzabenteuer
Eric Gauthier und seine Compagnie sind nach 15 Jahren lebendiger denn eh und je. Doch was wird aus dem eigenen Domizil?
Im vergangenen Jahr wurde Gauthier Dance vom Fachjournal „tanz“als einzige deutsche Compagnie zum „Glanzlicht der Saison“gekürt. Spätestens da war die Truppe ganz weit oben angekommen. Glanz und Gloria für ein waghalsiges Projekt, für ein Experiment mit ungewissem Ausgang, das mindestens so sehr zum Scheitern wie zum Erfolg verurteilt schien.
Das Stuttgarter Theaterhaus schien nicht die Mittel und Möglichkeiten für eine eigene Tanzsparte zu haben. Ein früherer Versuch, sie um den brasilianischen Ausnahmekönner Ismael Ivo aufzubauen, verfing nicht, trotz beteiligter Branchengrößen wie Marcia Haydée, Yoshi Oida oder George Tabori. Vor allem die Stadt Stuttgart verweigerte sich damals, erinnert sich Theaterhaus-urgestein Werner Schretzmeier: „Da war die Angelegenheit erstmal tot.“
Im Jahr 2005 gastierte ein junger sympathischer Kanadier mit seiner Band im Theaterhaus, kam mit Schretzmeier ins Gespräch und von ihm das Angebot: „Wenn Du mal was anderes machen willst, ruf mich an!“Eric Gauthier, so hieß der Kanadier, tanzte hauptberuflich am Stuttgarter Ballett, wo sich das Karriere-ende anbahnte. Also heuerte er bald bei Schretzmeier an, mit der Produktion „Don Q.“als „Lokomotive“, wie Schretzmeier sagt: Altstar Egon Madsen und Gauthier standen in Christian Spucks Stück auf der Theaterhaus-bühne.
Das Tanz-abenteuer erwies sich, so Schretzmeier, nicht als „Investition in ein schwarzes Loch: Es hat funktioniert. Und wir wollten die anfänglichen 600 000 Euro auch aus eigenen Bordmitteln stemmen. Also nicht einfach etwas machen, und das Experiment zahlen andere“, so Schretzmeier.
Gauthier Dance traf auf ein aufgeschlossenes Stuttgarter Publikum, weniger als Konkurrenz zum Platzhirsch Staatsballett, eher als Ergänzung, gelegentlich als Alternative, gerade auch für die Choreografen-community. Der smarte Kommunikator Eric Gauthier umgarnte und umwarb alle leichtfüßig und mit einer spielerischen Spaßoffensive, ohne auf die Qualitätsstandards zu verzichten.
Ein anfangs sechsköpfiges Ensemble ist mittlerweile auf 16 Tänzerinnen und Tänzer angewachsen – zum Vergleich: Das Oldenburgische Staatstheater hat keine einzige Stelle mehr vorzuweisen. Außerdem beschäftigt Gauthier Dance vier Juniorinnen und Junioren, drei Ballettmeister, das Büro – „ohne Eric sind’s 26 Leute“, zählt Schretzmeier zu
sammen. Nachdem sich Stadt und Land erst reserviert verhielten, war 2008 „das Eis gebrochen“, so der Theaterhaus-chef: Mittlerweile gibt die öffentliche Hand gut ein Drittel zum Elf-millionenetat dazu.
Das Theaterhaus wiederum finanziert 1,2 bis 1,3 Millionen Euro quer zur nachgefragten Tanzsparte. Ein Kraftakt sondergleichen, der dem Kulturveranstalter auf dem Pragsattel einiges abverlangt. Shootingstar Gauthier wollte die stolze Strecke, die es nun unter dem Motto „15 Years Alive“zu feiern gilt, vor allem mit der Aussicht aufs eigene Domizil halten – auf einen gläsern-leuchtenden Anbau, der neben der freien Tanz-szene eben auch Gauthier Dance beherbergen soll.
Dieses Tanzhaus, von vielen begrüßt und gefordert, ist bislang allerdings eine Fata Morgana geblieben. Längst müssten Finanzierung und Planung vorantraben, um ans Ziel zu kommen. Stattdessen galoppieren die Baupreise davon. Ursprünglich sollte der Kubus 39 Millionen Euro kosten, nun munkelt man von einem fünffachen Betrag. Und von einem Richtfest nicht vor 2028.
Von der Berlinale in die Oper
Wenn überhaupt. Nachfrage bei Gauthier: Was bedeutet das für seine Pläne? Der Tanzchef glaubt zwar kaum mehr daran, dass er den Anbau in den verbleibenden vier Vertragsjahren erlebt. Aber das verdirbt ihm nicht die gute Laune. Er steht noch zu Stuttgart,
„hier bin ich daheim“– obwohl ihn zuletzt zwei, drei hochkarätige Angebote lockten (wohin, verrät er nicht).
Es scheint, Gauthier hat keinen Kopf, in trübe Gedanken zu verfallen oder sich gar zu ärgern. Als wir ihn telefonisch erreichen, präsentiert er morgens auf der Berlinale die „Seven-sins“-doku, studiert mittags am Berliner Staatsballett mit dem Spitzenpaar Iana Salenko und Marian Walter einen Pas de deux für eine große Ukraine-solidaritätsgala ein und stellt nachmittags im Berlinalerahmenprogramm einen ArteBeitrag vor. Am nächsten Morgen geht’s gleich zur Vorprobe an die Stuttgarter Oper, wo er tatsächlich im Dezember ein Musiktheaterstück herausbringt („La Feste wird es heißen“).
Außerdem durchstreift er ebenfalls für Arte die internationalen Tanzmetropolen (er war für „Dance of the World“bereits in Tel Aviv, St. Petersburg und den Niederlanden), mischt bei einer Gala zugunsten der türkischen Erdbebenopfer mit (im Mai in Stuttgart) und fungiert neuerdings als „Bildungsbeauftragter“der Didaktika – wie schafft er das bloß? Klingt zumindest überzeugend, wenn Eric Gauthier am Telefon fröhlich festhält: „Wozu brauche ich hundert Tänzer in Berlin?“