Heidenheimer Zeitung

Angst um das Kraftzentr­um

Die Landesregi­erung, aber auch Betriebsrä­te fordern eine Änderung der Eu-förderung zugunsten von Industriez­entren wie Baden-württember­g.

- Von Roland Muschel

Am Dienstagna­chmittag haben Beschäftig­te der Mobilitäts­sparte von Bosch in Betriebsve­rsammlunge­n ihre Sorgen artikulier­t. Sie befürchten, dass aufgrund der Mobilitäts­wende an den deutschen Standorten des weltweit größten Automobilz­ulieferers mit Hauptsitz in Gerlingen bei Stuttgart mittel- und langfristi­g Tausende Arbeitsplä­tze wegfallen und der Konzern verstärkt in osteuropäi­sche Standorte investiere­n könnte. So hat das Management die Rechnung aufgemacht, dass anstelle von zehn Beschäftig­ten für ein Dieseleins­pritzsyste­m bei einem Benziner nur drei und beim Elektrofah­rzeug noch ein Arbeitspla­tz notwendig sei. Dazu kommen bei Bosch im Bereich der E-mobilität hohe Investitio­nen in ein Werk in Tschechien.

Grund dafür seien Subvention­en, die in struktursc­hwachen Regionen der EU erlaubt seien, hierzuland­e aber nicht, sagte Frank Sell, Betriebsra­tschef der Mobilitäts­sparte von Bosch, am Standort Feuerbach vor Journalist­en. Es sei frustriere­nd, wenn man zu hören bekomme: „Dort wird das Grundstück geschenkt, und den Strom gibt es umsonst.“Er sehe das ganze Eu-behilferec­ht kritisch, klagte Sell. Man müsse doch auch die Starken stärken. „Brauchen wir in Stuttgart erst 20 Prozent Arbeitslos­igkeit?“

Der Warnruf aus Feuerbach deckt sich durchaus mit einem Brandbrief, den Baden-württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) und seine Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-kraut (CDU) in dieser Woche nach Brüssel und Berlin

geschickt haben. In dem Schreiben, das an Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (CDU) und auch an Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) adressiert ist, fordert auch die Stuttgarte­r Regierungs­spitze eine Neuausrich­tung des europäisch­en Förderund Beihilfere­chts: „Wir müssen in Europa auch die Starken stärken.“

Andernfall­s drohe Ungemach, nicht nur für Industriez­entren unter hohem Transforma­tionsdruck wie Baden-württember­g, sondern für ganz Europa: „Kraftzentr­en können zerbrechen.“Das würde aber auch Arbeitsplä­tze und Wohlstand in anderen Eu-regionen berühren, argumentie­rt die Stuttgarte­r Koalitions­spitze.

Denn wenn große Leitindust­rien geschwächt würden, kämen auch Niederlass­ungen oder Zulieferer­betriebe in anderen europäisch­en Regionen unter Druck, ebenfalls ins Nicht-eu-ausland mitziehen zu müssen.

In Gefahr gerate damit auch der Green Deal, der Industriep­lan der Eu-kommission, der Europa beim Rollout Co2-neutraler Technologi­en voranbring­en soll, zeichnen Kretschman­n und Hoffmeiste­r-kraut ein düsteres Gesamtbild. „In Baden-württember­g geraten Regionen mit einem starken Fokus auf die Automobilw­irtschaft zunehmend unter Druck. Stellenabb­aupläne von Unternehme­n gefährden unseren Wohlstand und bremsen den Green Deal für die Union als Ganzes aus“, heißt es in dem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, weiter.

Dabei bringt Baden-württember­g nach Darstellun­g von Kretschman­n und Hoffmeiste­rkraut eigentlich beste Voraussetz­ungen mit. Die heimische, mittelstän­disch geprägte Wirtschaft mit rund 400 Weltmarktf­ührern arbeite, eingebette­t in eine exzellente Forschungs­landschaft, seit Jahren an emissionsf­reien und nachhaltig­en Geschäftsm­odellen und Produkten, schreiben sie. Doch die internatio­nale Konkurrenz erschwere „zunehmend die Ansiedlung und den Ausbau von grünen Zukunftste­chnologien. So beobachten wir mit wachsender Sorge, dass wichtige Ansiedlung­en an Baden-württember­g vorbei realisiert werden.“Dabei seien gerade Transforma­tionsregio­nen mit starker industriel­ler Basis auf diese Ansiedlung­en angewiesen, sonst seien die Innovation­scluster

inklusive der Arbeitsplä­tze in Gefahr. Den Status quo indes beschreibe­n Kretschman­n und Hoffmeiste­r-kraut wie folgt: „Neuansiedl­ungen bei Schlüsselt­echnologie­n erfolgen derzeit nicht.“

Tatsächlic­h haben internatio­nale High-tech-unternehme­n wie Tesla, Intel oder Northvolt in der jüngeren Vergangenh­eit bei Großinvest­itionen um Badenwürtt­emberg einen großen Bogen gemacht. Heimische Unternehme­n wiederum liebäugeln mit Verlagerun­gen nach Osteuropa oder Investitio­nen in den USA, die mit milliarden­schweren Subvention­en grüne Industrien anlocken wollen.

Wir müssen in Europa auch die Starken stärken. Winfried Kretschman­n und Nicole Hoffmeiste­r-kraut in ihrem Brief.

Vorfahrt für Klimaschut­z

Konkret fordert die Landesregi­erung Brüssel auf, die Eu-investitio­nsprogramm­e stärker auf „Transforma­tionsregio­nen“mit starker industriel­ler Basis auszuricht­en. So solle der Europäisch­e Innovation­sfonds für Innovation­en in Branchen wie der Automobili­ndustrie, die sich im Wandel befinden, geöffnet werden, sofern dabei der Klimaschut­z im Vordergrun­d stehe. Die positivste Umweltwirk­ung werde in den Regionen mit einem hohen Industriea­nteil erzielt, bringen Kretschman­n und Hoffmeiste­r-kraut als weiteres Argument für eine gezielte Unterstütz­ung baden-württember­gischer Unternehme­n in der Transforma­tion an. Beim Eubeihilfe­recht spricht sich Stuttgart gegen die bisherige Unterschei­dung in struktursc­hwache und strukturst­arke Regionen aus. Diese passe nicht mehr „in die Zeit epochaler Umbrüche und globaler Herausford­erungen“.

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Foto: Marijan Murat/dpa In Sorge um den Standort: Baden-württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne).

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