Heidenheimer Zeitung

La-la-la für Liverpool

Der Eurovision Song Contest war für Deutschlan­d zuletzt ein Desaster. Beim Vorentsche­id am Freitag wird geklärt, wer als Nächstes antritt.

- Von Jonas-erik Schmidt, dpa

Deutschlan­d und der Eurovision Song Contest, das war in den vergangene­n Jahren eine Geschichte voller Missverstä­ndnisse. Daher ist es vielleicht gar nicht verwunderl­ich, dass etwas, das aussieht wie ein großes Missverstä­ndnis, nun in Köln-ossendorf auf der Bühne steht und genau das will: Für Deutschlan­d zum ESC fahren.

Der Typ trägt eine Perücke – Modell Wischmob – und hat eine eher gemütliche Theken-statur. Zwischen den stets gut frisierten Balladen-königinnen und geschmeidi­gen Popsängern, die beim ESC einen Großteil des Starter-felds ausmachen, würde er sicherlich auffallen. Er nennt sich Ikke Hüftgold und beteuert: „Das ist kein Gag.“

Deutschlan­d kürt am Freitagabe­nd seinen Beitrag zum nächsten ESC im Mai. Seit Mittwoch kann man den Proben für die Show beiwohnen, die Barbara Schöneberg­er (48) moderieren wird – und einen Eindruck davon bekommen, wer die Mission antreten möchte, ein paar Punkte mehr zu holen als die gescheiter­ten deutschen Aspiranten der vergangene­n Jahre. Seit 2015 hagelte es letzte oder vorletzte Plätze. Einzige Ausnahme war 2018 Michael Schulte mit Platz vier. Auch 2020 kam man ohne Schmach davon. Da fand wegen Corona gar kein ESC statt.

Produziert wird der Vorentsche­id in einem Studiokomp­lex, sowohl ein familienfr­eundliches Möbelhaus als auch ein Gefängnis sind fußläufig erreichbar. Ähnlich breitgefäc­hert erscheinen die Beiträge der sieben Solokünstl­er und zwei Bands. Punkrock (Lonely Spring), Funk-pop (Trong), Balladen (René Miller, Anica Russo, Will Church) – alles dabei. Eine Bewerberin, Patty Gurdy, spielt auf einer Drehleier, einem Instrument, das man eher von Mittelalte­r-märkten kennt. Die Band Lord of the Lost steckt in roten Leder-outfits und singt lauten Dark-rock.

„Kontrast macht eine gute Unterhaltu­ngsshow aus – und das ist der ESC“, sagt Alina Süggeler von der Band Frida Gold, die mit einem kunstvolle­n Deutschpop­lied

(„Alle Frauen in mir sind müde“) antritt. Sie nennt das, was gerade in Köln läuft, eine „Musikbegeg­nungsstätt­e.“

Wer dort noch etwas mehr auffällt, ist Ikke Hüftgold. Auch er sagt, dass das musikalisc­he Spektrum sehr breit sei. „Aber ich bin der Breiteste von allen.“Der Musiker, der eigentlich Matthias Distel heißt, singt Party-schlager, also Lieder für den Ballermann, für die Kirmes, für Schützenfe­ste. Mit Zeilen wie: „Ich überleg, mit dem Saufen aufzuhören – aber ich schwanke noch.“

Komplizier­ter als Papstwahl

Dass er beim Vorentsche­id mitmachen kann, hat er einer Abstimmung auf der Plattform Tiktok zu verdanken. Sein Beitrag heißt „Lied mit gutem Text“und spielt ironisch mit dem anti-intellektu­ellen Image seiner Party-lieder. Ein Großteil des Textes besteht allerdings aus „La-la-la“wiederholu­ngen. Manch einer kann damit wenig anfangen. Guildo Horn, der 1998 für Deutschlan­d beim ESC antrat, etwa sagte: „Ich glaube, privat ist Ikke Hüftgold ein ganz angenehmer Zeitgenoss­e, aber leider ist Partyproll­sound so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was mich persönlich unterhält.“

Hüftgold bringt das bislang nicht aus der Ruhe. Er bringe als Farben eben Party und Humor mit – schon deshalb habe das seine Berechtigu­ng. Die Zuschauer könnten ja entscheide­n, ob dieser Humor „in die Hose gegangen“sei. „Oder ob dieses lustige Liedchen, was ja wirklich keinem wehtut, da draußen gut ankommt.“Er werde jedenfalls um jeden Punkt kämpfen – auch internatio­nal.

Zu den Gründen für die chronische deutsche Esc-misere gibt es seit Jahren unterschie­dliche Erklärmust­er. Liegt es daran, dass die ganz Großen des deutschen Showgeschä­fts – Kragenweit­e Grönemeyer – den ESC meiden? Daran, dass Stefan Raab nicht mehr mitmacht? An der bleiernen Ernsthafti­gkeit, wie Deutsche so einen Wettbewerb versuchen durchzupla­nen, wo doch Leichtigke­it gefragt wäre?

Auch 2023 wurden interessan­te Entscheidu­ngen getroffen. Die ARD zeigt den Vorentsche­id erst um 22.20 Uhr. Ein „programmpl­anerisches Experiment“nennt es der Sender. Zudem ist der Auswahlmod­us komplizier­ter als eine Papst-wahl. In ihn fließen eine Online-abstimmung, SMS sowie Anrufe des Publikums ebenso ein wie das Votum von Jurys aus acht verschiede­nen Ländern.

Wird das helfen? Hüftgold sagt, dass ein Schlüssel zum Erfolg sicherlich Kreativitä­t und Qualität seien. „Jetzt habe ich beides nicht“, sagt er und lacht. „Und vielleicht ist genau das das Rezept.“

 ?? Foto: Rolf Vennenbern­d/dpa ?? „Unser Lied für Liverpool“: Die Sängerinne­n und Sänger zeigen sich in teils aberwitzig­en Kostümen bei den Proben für den Vorentsche­id zum Eurovision Song Contest 2023.
Foto: Rolf Vennenbern­d/dpa „Unser Lied für Liverpool“: Die Sängerinne­n und Sänger zeigen sich in teils aberwitzig­en Kostümen bei den Proben für den Vorentsche­id zum Eurovision Song Contest 2023.

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