„Wir müssen Schule neu denken“
Grünen-landeschefin Lena Schwelling will ihre Partei in Schulfragen bis zur Landtagswahl 2026 klarer positionieren. Ein Gespräch über Bildung, Bürgermeisterwahlen - und Boris Palmer.
Lena Schwelling hat sich viel vorgenommen: Die Grünen-landeschefin will die kommunale Basis ihrer Partei stärken und das grüne Profil in der Bildungspolitik mit Blick auf die Wahl 2026 schärfen. Dabei nimmt sie auch Kontroversen in Kauf: „Ich ducke mich vor unpopulären Debatten nicht weg“, sagt sie beim Gespräch im Stuttgarter Büro dieser Zeitung.
Eine Elterninitiative macht für die flächendeckende Rückkehr zum G9 mobil. Ihr Koalitionspartner CDU liebäugelt auch mit einer Neupositionierung in der Frage. Und Sie? Lena Schwelling:
Die G9-initiative adressiert einige Kernprobleme: Es gibt an den Schulen zu viel Unterrichtsstoff, es ist für Schülerinnen und Schüler insgesamt zu stressig. Einfach ein Jahr draufzupacken, finde ich aber zu kurz gedacht. Wir müssen die Frage, was gute Schule ausmacht, viel grundsätzlicher angehen.
Was heißt das?
Die Schule hat sich im Kern seit dem 19. Jahrhundert kaum verändert, unser Leben ändert sich aber rasant. Wir müssen uns fragen: Wie kann Schule die nächste Generation aufs Leben im 21. Jahrhundert vorbereiten? Die Antwort liegt sicher nicht in einem Zusatzjahr für eine Schulform.
Wie sollte die Schule der Zukunft aussehen?
Ganz anders. Die junge Generation wird nach Schule und Ausbildung nicht 30 Jahre den gleichen Job machen, sondern mit vielen Veränderungen konfrontiert werden. Darauf bereitet sie die Schule nicht ausreichend vor. Wir müssen Lehrpläne entrümpeln und weniger Faktenwissen pauken lassen, das ohnehin auf dem Smartphone verfügbar ist. Stattdessen sind Fähigkeiten wie Kreativität, Selbstorganisation oder Medienkompetenz gefragt. Wir müssen Schule neu denken.
Die Grünen regieren seit 2011, stellen seit 2021 auch die Schulministerin.
Wir sind 2011 mit einer sehr klaren Haltung gestartet: Wir wollen die Gemeinschaftsschule als Schule für alle mit Reformansätzen, die in die Richtung gehen, die ich gerade beschrieben habe. Der Druck war aber groß, auch das Gymnasium zu behalten. Dann kam die Koalition mit der CDU, die großer Anhänger der Realschule ist. Der ursprüngliche Ansatz wurde durch die notwendigen Kompromisse innerhalb einer Koalitionsregierung etwas rundgespült. Ich halte es für eine Aufgabe der Partei, unser Ideal der perfekten Schule neu zu definieren.
Sie haben die Landtagswahl 2026 im Blick?
In dieser Legislaturperiode mit diesem Koalitionspartner wird es sicher keine großen Reformen geben. Aber als Partei denken wir weiter. Natürlich wollen wir mit einer Haltung und einer Zielvorstellung in die Wahl 2026 gehen. Bildungspolitik ist ja ein wesentlicher
Teil der Landespolitik. Wir haben im April eine erste große Parteiveranstaltung, bei der es um die Grundschule der Zukunft gehen soll. So arbeiten wir uns Schritt für Schritt voran.
Insgesamt klingt das nach einer Revitalisierung der Gemeinschaftsschulen.
Vieles, was die Gemeinschaftsschulen heute machen, bewährt sich. Das müssen wir auf andere Schulformen übertragen. Die Gemeinschaftsschule, so wie wir sie uns vorstellen, funktioniert aber nur dort, wo sie eine gymnasiale Oberstufe hat. Mit der CDU war es leider schwierig, sich überhaupt auf zehn Gemeinschaftsschulen zu einigen, die auch das Abitur ermöglichen.
Was ist mit Gemeinschaftsschulen ohne gymnasiale Oberstufe?
Wir müssen selbstkritisch prüfen, ob wir nicht zu viele kleine Schulen haben, auch bei den Gemeinschaftsschulen. Möglicherweise sollten wir gerade in Ballungsräumen eine Konzentration auf wenige Standorte fokussieren, um dort die für eine gymnasiale Oberstufe notwendigen Schülerzahlen zu erreichen. Das wird für uns Grüne eine schwierige Debatte. Aber wir müssen auch an der Stelle mutiger und selbstkritischer sein. Wir müssen angesichts des Lehrermangels auch prüfen, ob wir uns noch jede kleine Grundschule im Land leisten können. Ich ducke mich vor unpopulären Debatten nicht weg.
Sie sind mit dem Anspruch angetreten, dass die Grünen die Rathäuser erobern. Woran liegt es, dass ihre Partei bei Bürgermeisterwahlen längst nicht so erfolgreich ist wie auf Landesebene?
Das hat viel mit uns selbst zu tun. Viele Grüne sind mit dem Anspruch, die Welt zu retten, in die Partei eingetreten. Die Denke ist: Die großen Räder dreht man in Berlin oder Brüssel, vielleicht auch in Stuttgart. Aber die Welt rettet man vor Ort. Alles, was wir auf Landesebene etwa zum Klimaschutz beschließen, funktioniert nur, wenn es in den Kommunen umgesetzt wird. Für diese Sichtweise werben wir – mit zunehmendem Erfolg.
Was heißt das?
Die Mitglieder haben Bock auf Bürgermeister. Wir haben inzwischen auch in Kleinstgemeinden grüne Kandidatinnen und Kandidaten. Jetzt geht es darum, sie so zu unterstützen, dass sie gewinnen. Die Wählerschaft honoriert Verwaltungserfahrung, die haben nicht so furchtbar viele Grüne zu bieten. Wir wollen daher Mitglieder,
die sich perspektivisch den Bürgermeister-job zutrauen, ermutigen, auf die Verwaltungshochschule zu gehen oder in der Verwaltung Erfahrungen zu sammeln. Und wir wollen mehr Menschen, die diese Erfahrung schon haben und unsere Ziele teilen, für die Partei und eine Kandidatur gewinnen.
Was ist die Zielsetzung für die Kommunalwahlen 2024?
In den Großstädten sind wir vielerorts in den Kommunalparlamenten bereits stärkste Kraft. Gleichzeitig sind wir bei 1101 Kommunen nur in rund 400 Räten vertreten, wenn man grünennahe Listen dazuzählt. Wir versuchen gerade, mit den Kreisverbänden landesweit rund 50 zusätzliche Listen aufzustellen – und zwar in den Gemeinden, wo wir uns auf Grundlage einer Potenzialanalyse die besten Chancen ausrechnen.
Apropos Rathäuser: Die Parteimitgliedschaft des Tübinger OB Boris Palmer ruht offiziell bis Ende des Jahres. Sie verhandeln mit ihm über die Modalitäten der Rückkehr. Wie laufen die Gespräche?
Der Vergleich steht: Ab dem 1. Januar 2024 wird Boris wieder vollwertiges
Mitglied der Partei sein, und auf dem Weg dahin bin ich mit ihm in einem regelmäßigen Austausch. Ich empfinde unsere Gespräche als konstruktiv. Wenn er mit dem Rest der Partei künftig auch so umgehen kann, dann war das ganze Parteiausschlussverfahren auch zu etwas gut.
Mit dem Migrationspapier der „Vert Realos“hat Boris Palmer als Mitunterzeichner schon vor seiner Rückkehr eine Neupositionierung der Partei in einer wichtigen Frage gefordert. Sind das die Debattenbeiträge, auf die Sie künftig hoffen?
Wir müssen auch prüfen, ob wir uns noch jede kleine Grundschule im Land leisten können.
Inhaltlich regt mich das dünne Papier nicht sonderlich auf, aber es bringt die Partei auch nicht weiter. Ankunftszentren an Euaußengrenzen sind zum Beispiel eine Forderung, die für eine Gruppierung, die sich Realos nennen, ziemlich weltfremd ist. Die Länder an den Eu-außengrenzen haben längst klargemacht, dass sie das nicht wollen.
Gibt es eine Rolle für Boris Palmer in der Partei, von der alle profitieren könnten?
Boris muss selber entscheiden, welche Rolle er spielen will. Aus seiner kommunalen Erfahrung hat er zum Beispiel an den richtigen Stellen eingespeist, dass man an den Straßenohren, also Auffahrtsbereichen von Bundesund Landstraßen, die Photovoltaik wunderbar ausbauen könnte, aber nicht darf. Die Folge war eine Gesetzesänderung, davon profitieren jetzt alle. Wenn das die Richtung ist, in die Boris grundsätzlich gehen will, haben wir eine Win-win-situation.