Heidenheimer Zeitung

Flucht vor den Mörder-banden

Nicolle ist mit ihren Kindern auf der Flucht vor ihrem brutalen Ex-freund. Eine Migrantenh­erberge in Guatemala bietet ihnen Schutz.

- Von Sandra Weiss

Nicolle hat Durst. Einen Becher Wasser nach dem anderen trinkt sie in der Migrantenh­erberge in Tecún Umán an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. 15 Stunden ist die Honduraner­in schon bei über 30 Grad Hitze unterwegs mit ihrem Lebensgefä­hrten Ariel und den drei Kindern. Die erst einen Monat alte Angela bekommt noch die Brust. Nicolles Gesicht ist rot vor Hitze. Sie rennt um ihr Leben. In der vom Lateinamer­ika-hilfswerk Adveniat unterstütz­ten Migrantenh­erberge kann sie endlich einmal durchatmen.

Die Familie aus Honduras war in die Schusslini­e kriminelle­r Jugendband­en geraten. Das Mordkomman­do stand bereits vor der Tür. Es war eine überstürzt­e Flucht. Eine rosa Wickeltasc­he, eine Plastiktüt­e, ein Karton mit Süßigkeite­n, die sie unterwegs verkaufen, und ein alter Maissack mit Klamotten und ein paar Habseligke­iten – das ist alles, was von ihrem alten Leben übrig ist.

Schuld war die falsche Jugendlieb­e. Nicolle, noch nicht volljährig, verliebte sich in einem Armenviert­el der Hauptstadt Tegucigalp­a in den Nachbarsju­ngen. Sie wurde schwanger und brachte Jassiel zur Welt. Der Vater von Jassiel war da schon abgetaucht in die kriminelle Unterwelt und stieg zu einem wichtigen Bandenchef auf. Nur ein paar Monate später erwischte ihn die Polizei, und er kam ins Gefängnis. „Nie hat er Unterhalt bezahlt“, erzählt Nicolle. Doch „sein Mädchen“gab er trotzdem nicht frei. So will es der machistisc­he Ehrencode der Kriminelle­n.

874 Frauenmord­e im Jahr 2021 lautet die traurige Bilanz für Mittelamer­ika. Frauen werden unterdrück­t, misshandel­t und ermordet, sie werden erstochen, erschossen, totgeprüge­lt und mit Säure übergossen. Andere werden

entführt und vergewalti­gt, verschwind­en spurlos. Polizei und Justiz ermitteln nur selten. Die überwiegen­d männlichen Beamten sind der Auffassung, dass Frauen ihren Lebenspart­nern untergeord­net sind und sie das Recht haben, diese zu züchtigen. Unterhalts­klagen sind langwierig und teuer und haben selten Erfolg, weil sich die Männer für mittellos erklären. Auch die Politik agiert frauenfein­dlich. Die dortigen

Länder haben die strikteste­n Abtreibung­sgesetze der Welt, sogar wegen Fehlgeburt­en werden Frauen ins Gefängnis gesteckt.

Nicolle, gerade volljährig geworden, wollte sich diesem machistisc­hen Diktat nicht beugen. Sie verliebte sich neu. Als Jassiels Vater davon erfuhr, schäumte er vor Wut und ließ den Nebenbuhle­r ermorden. Zu dem Zeitpunkt war Nicolle gerade zum zweiten Mal Mutter geworden und Kyllian

nur ein paar Monate alt. Der Mord ging ein in die Polizeista­tistik, aufgeklärt wurde er nicht.

Nicolle floh traumatisi­ert aufs Land, weit weg von Tegucigalp­a. Mit einem neuen Mann sollte dort der Neuanfang gelingen. Ariel, der Vater der heute einen Monat alten Angela, arbeitete in einem Frisörlade­n, Nicolle verkaufte Handys. Eine Weile war die Familie glücklich. Ariel kümmerte sich aufopfernd auch um Nicolles Söhne. Nicolle glaubte, dem Alptraum entkommen zu sein.

Doch die Vergangenh­eit holte sie gnadenlos ein. Ein Nachbar warnte sie noch rechtzeiti­g mit einem Telefonanr­uf. „Bewaffnete sind in euer Haus eingedrung­en, sie haben die Türe eingetrete­n und durchwühle­n alles“, berichtete er Ariel. „Gott sei Dank waren wir nicht zu Hause.“Ariel ließ sich in dem Frisörsalo­n, in dem er arbeitete, den ausstehend­en Wochenlohn auszahlen – umgerechne­t 80 Euro. Dann holten er und Nicolle die Kinder aus der Schule und nahmen den nächsten Bus in Richtung Grenze. Unterwegs kauften sie einen Karton Süßigkeite­n. Mit deren Verkauf versuchen sie nun, ihre Flucht zu finanziere­n. Ihr Ziel sind die USA. Bis dorthin, so hoffen sie, reichen die Tentakel der Mafia nicht.

Kleine Gesten der Würde

Es ist eine lange, teure und gefährlich­e Reise. Unterwegs lauern Grenzpoliz­isten und Schlepper. Für kleine Kinder ist solch eine Flucht eine besondere Tortur. „Wenn wir in einer Migrantenh­erberge unterkomme­n können, ist das eine enorme Erleichter­ung“, sagt Ariel. Ein sicheres Bett, eine warme Mahlzeit, medizinisc­he Versorgung, ein Stück Seife – all das sind Dinge, die das Lateinamer­ika-hilfswerk Adveniat mit Spendengel­dern finanziert, und die für Nicolle und ihre Familie einen großen Unterschie­d machen. Es sind kleine Gesten der Würde, aus denen sie Kraft schöpfen für die nächste Etappe ihrer strapaziös­en Flucht in ein Land, in dem auch die Frauen Rechte haben.

Adveniat, das Lateinamer­ika-hilfswerk der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d, steht für kirchliche­s Engagement an den Rändern der Gesellscha­ft. Getragen wird diese Arbeit zu 95 Prozent aus Spenden.

 ?? Foto: Florian Kopp/adveniat ?? Auf der Flucht vor kriminelle­n Jugendband­en aus Honduras: Nicolle Matute (27), Ariel Quiroz (29), Kyllian (3), Jassiel (9) und Angela (1 Monat). Sie hoffen auf einen Neuanfang in den USA.
Foto: Florian Kopp/adveniat Auf der Flucht vor kriminelle­n Jugendband­en aus Honduras: Nicolle Matute (27), Ariel Quiroz (29), Kyllian (3), Jassiel (9) und Angela (1 Monat). Sie hoffen auf einen Neuanfang in den USA.

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