Anklage wegen Corona-toten
Staatsanwalt ermittelt nach der „Apokalypse von Bergamo“gegen den damaligen italienischen Ministerpäsidenten Giuseppe Conte.
Das Bild ist um die Welt gegangen: In der Nacht auf den 18. März 2020 verließ ein Konvoi von Militärlastwagen mit mehr als 60 Särgen die Stadt. Das Krematorium von Bergamo war überlastet, auf den Friedhöfen gab es keinen Platz mehr für die vielen Covidtoten. In den folgenden Tagen gab es immer wieder solche Konvois, die Särge in andere Provinzen transportierten.
Täglich starben in Bergamo Dutzende, später hunderte Menschen am Coronavirus. Die Übersterblichkeit in der Provinz Bergamo lag allein im Februar und März 2020, den ersten beiden Monaten der Pandemie, bei 6200 Toten. Die Zustände in der norditalienischen Stadt mit ihren 120 000 Einwohnern sind auch als „Apokalypse von Bergamo“bezeichnet worden.
Mehr als 4000 dieser Toten hätten vermieden werden können, wenn die Behörden rechtzeitig eine „rote Zone“für die Provinz eingeführt hätten: Zu diesem Schluss kommt nun der Staatsanwalt von Bergamo, Antonio Chiappani, der auch aufgrund von Klagen Angehöriger Ermittlungen aufgenommen hatte. Chiappani wirft dem damaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, seinem Gesundheitsminister Roberto Speranza, dem lombardischen Regionalpräsidenten Attilio Fontana sowie einem Dutzend weiterer Politiker und Experten Fehleinschätzungen vor bezüglich der Gefährlichkeit des Virus’ sowie Versäumnisse bei dessen Bekämpfung. Für die Beschuldigten beantragt der Staatsanwalt einen Prozess wegen schuldhafter Begünstigung einer Pandemie, mehrfacher fahrlässiger Tötung und unterlassener Amtshandlungen.
Tatsächlich hatte die Regierung von Conte – heute Chef der Fünf-sterne-protestbewegung – trotz besorgniserregender Fallzahlen in Bergamo zunächst nur wenige Quarantäne-maßnahmen verhängt. Ganz im Unterschied zum Gebiet rund um Lodi, wo bereits am 23. Februar, nur zwei Tage nach dem ersten offiziellen Corona-todesfall in Italien (und damit auch in Europa), elf Gemeinden komplett von der Umwelt abgeriegelt wurden. Zur „roten Zone“wurde Bergamo erst am 8. März erklärt, zusammen mit der ganzen Lombardei und weiteren 14 Provinzen Norditaliens. Drei Tage später schickte Conte auch noch den Rest des Landes in den Lockdown. Conte und Speranza werden sich voraussichtlich vor einem Ministertribunal verantworten müssen. Der Ex-premier erklärte, dass er den Prozess nicht fürchte, weil er gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ein ruhiges Gewissen habe.
Angehörige begrüßen Anklage
„Wir alle haben in einem der härtesten Momente, den unsere Republik je erlebt hat, mit größtem Einsatz und mit Verantwortungsbewusstsein gehandelt“, ließ Conte verlauten. Ähnlich äußerte sich Ex-gesundheitsminister Speranza, der auf die große Unsicherheit von damals verwies. Angehörige von Covid-toten in Bergamo begrüßten die Anklage: „Der Prozess bringt uns zwar unsere Lieben nicht zurück, aber er verschafft denen Gerechtigkeit, die wegen der Fehler anderer gestorben sind.“
Allerdings steht die Frage im Raum, ob das Agieren von Conte und den anderen Beschuldigten überhaupt „justiziabel“ist. Die Regierung war im Februar 2020 mit der größten gesundheitlichen Bedrohung seit der Spanischen Grippe vor über hundert Jahren konfrontiert. Die Krise traf die
Behörden weitgehend unvorbereitet – auch, weil aus China, wo das Virus zuerst aufgetreten war, nur verspätete, unzureichende und falsche Informationen kamen. Und man darf nicht vergessen: Im Vergleich zu späteren Phasen der Pandemie lag die Zahl der entdeckten Infektionsfälle im Februar und März 2020 noch auf einem äußerst niedrigen Niveau. Als Conte am 23. Februar die 50 000-Einwohnerstadt Lodi und elf weitere Kleinstädte abriegelte, zählte man in Italien gerade einmal 130 positiv Getestete.
Bei so niedrigen Fallzahlen Millionen Menschen mit harten Quarantäne-maßnahmen ihrer grundlegenden Freiheitsrechte zu berauben, ist eine heikle Aufgabe. Gerade in Bergamo, einem der produktivsten Industrie-distrikte Italiens, war der Widerstand der Wirtschaft und des Bürgermeisters gegen die Restriktionen zunächst groß gewesen.
Auch die postfaschistischen Fratelli d‘italia und die rechtsradikale Lega, damals in der Opposition und heute die beiden größten Regierungsparteien in Rom, hatten die „Freiheitsberaubungen“durch Conte scharf kritisiert. Nun erfolgte die opportunistische Kehrtwende: Die Rechtsparteien forderten die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zur Abklärung der möglichen Versäumnisse der damaligen Regierung.