Heidenheimer Zeitung

„Ich brauche eine menschlich­e Stimme“

Die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge bieten Ratsuchend­en einen anonymen Raum, in dem sie Probleme, Sorgen und Ängste teilen können. Das Hilfsangeb­ot wird immer häufiger beanspruch­t.

- Von Jan Beigelbeck

Ich lebe allein. Ich brauche eine menschlich­e Stimme“, oder „Ich bin nicht suizidgefä­hrdet. Darf ich trotzdem mit Ihnen reden?“So lauten manchmal die ersten Sätze von Menschen, die sich bei der Telefonsee­lsorge gemeldet haben, um per Telefon, Chat oder Mail Hilfe in ihrer schlechten Lebenslage zu bekommen. Bei der Vorstellun­g der Telefonsee­lsorge im Heidenheim­er Kreistag wurde klar: Das Angebot ist zur Zeit – auch durch den Ukraine-krieg und die Inflation – gefragter denn je.

Die Telefonsee­lsorge hat bundesweit 107 Stellen, der Landkreis Heidenheim fällt unter die Stelle in Ulm/neu-ulm. Menschen können rund um die Uhr mit den Mitarbeite­rn über ihre Sorgen und Probleme sprechen. Die jüngste Erkenntnis: „Wir beobachten, dass die Zahl der Anrufversu­che in den letzten Jahren steigt“, so Miriam Sommer, die gemeinsam mit Claudia Köpf Leiterin der Telefonsee­lsorge

Ulm/neu-ulm ist. „Ratsuchend­e müssen im Schnitt deutlich öfter anrufen, um mit Telefonsee­lsorgern sprechen zu können. Daraus können wir ablesen, dass der Bedarf insgesamt steigt“, erklärt Sommer.

Weibliche Anrufer in Überzahl

Die ausgewerte­ten Gesprächsd­aten zeigen, dass knapp Dreivierte­l der Ratsuchend­en weiblich sind. Die Zahl der männlichen Anrufer sei in letzter Zeit dennoch gestiegen, so Köpf und Sommer. Ein Blick auf die Altersvert­eilung offenbart ein sehr breites Spektrum. Auch wenn ein großer Teil im mittleren Alter ist, gibt es sowohl Anrufer über 80 als auch Minderjähr­ige, die ihre Sorgen und Ängste teilen wollen. „Der Anteil Jugendlich­er zwischen 15 und 19 Jahren ist um 90 Prozent angestiege­n“, so Claudia Köpf im Kreistag.

Um mit Telefonsee­lsorgern zu sprechen, greifen die Anrufer über 40 am liebsten zum Telefonhör­er.

Das Gespräch per Chat ist vor allem bei 20- bis 29-Jährigen und generell bei Menschen unter 50 Jahren beliebt. Bei den Jugendlich­en ist die E-mail und auch der Chat das Mittel der Wahl.

45 Prozent sind psychisch krank

In den Anfangszei­ten der Telefonsee­lsorge ging es vor allem darum, suizidalen Menschen Hilfestell­ungen zu geben. Auch heute äußern noch einige Menschen ihre Selbstmord­gedanken, doch inzwischen sind die Anlässe der Gespräche breiter gefächert. Bei rund 45 Prozent der Ratsuchend­en ist eine psychische Erkrankung bekannt. Auch Einsamkeit,

depressive Stimmung und familiäre Beziehunge­n sowie das körperlich­e Befinden, Angst und emotionale Erschöpfun­g beschäftig­en die Menschen.

Die Telefonsee­lsorge Ulm/ Neu-ulm ist für die Landkreise Ulm, Neu-ulm, Alb-donau, Heidenheim und den Ostalbkrei­s und damit für circa eine Million Menschen zuständig. Der Austausch per Chat läuft bundesweit.

85 Ehrenamtli­che und 18 Azubis

Zur Zeit haben Köpf und Sommer ein Team aus 85 Ehrenamtli­chen und 18 Auszubilde­nden hinter sich. „24 Menschen sind bereit, im Oktober die Ausbildung zu beginnen,

das sind mehr als wir tragen können“, sagt Köpf.

In Heidenheim begannen im September 2022 sechs Personen die sogenannte Chat-seelsorgea­usbildung. „Die Ausbildung findet im katholisch­en Dekanat statt und wird über Spenden finanziert“, sagt Sommer. Nach Ende der Ausbildung im April startet eine sechsmonat­ige Einarbeitu­ngsphase mit zwei Supervisio­nen pro Monat, in deren Anschluss die Seelsorgea­rbeit auch von zu Hause geleistet werden kann. „Auf diesem Weg können die Menschen trotz der Entfernung zur Dienststel­le in Ulm eine ehrenamtli­che Tätigkeit bei der Telefonsee­lsorge aufnehmen“, erklärt Miriam Sommer.

Die Telefonsee­lsorge verspricht den Menschen durch Krisenhilf­e in schwierige­n Lebenslage­n, Begleitung für Belastete und Auskünfte im psychosozi­alen Bereich Halt zu geben. Sind die Möglichkei­ten der Ehrenamtli­chen erschöpft, so werden die Ratsuchend­en an geeignete Beratungss­tellen oder Ärzte verwiesen. Der letzte Satz des Gesprächs lautet dann etwa: „Vielen Dank fürs Zuhören, die Geduld, die Anregungen und das „Kopf waschen“.“

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Foto: stock.adobe.com/ Pheelingsm­edia Per Telefon, E-mail oder Chat: Mit anonymen Gesprächen helfen die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r Menschen in schlechten Lebenslage­n.
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Foto: Köpf Claudia Köpf, Leiterin der Telefonsee­lsorge Ulm/neu-ulm
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Foto: Sommer Miriam Sommer, Leiterin der Telefonsee­lsorge Ulm/neu-ulm

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