Heidenheimer Zeitung

Wir und der Fluss

Mitglieder einer jahrhunder­tealten indigenen Kultur kämpfen in Ecuador um den Erhalt eines einzigarti­gen Ökosystems. Von dessen Zukunft hängt auch ihre eigene ab. Ein Besuch am Río Piatúa, wo Pläne für ein Wasserkraf­twerk den Lebensraum der Kichwa bedrohe

- Inga Dreyer, David Schmidt

Carlota Alvarado erinnert sich genau an den Tag, an dem die Erde zu beben begann und plötzlich Lärm durch den dichten, grünen Wald hallte. Brauner Schlamm strömte den sonst so klaren Fluss Piatúa hinunter, Tiere rannten an seinem Ufer entlang. „Wir hatten Angst“, sagt Alvarado. „Das ist unser Fluss, unser Lebensquel­l.“Francisco Alvarado, der Bruder von Carlota, war einer der ersten, der an jenem Tag im Jahr 2018 in Richtung der Geräusche lief, die wie Explosione­n klangen. Er entdeckte Maschinen und Mitarbeite­r der Firma Generación Eléctrica San Francisco (Genefran S.A.) bei den Vorbereitu­ngen für den Bau eines Wasserkraf­twerks. „Alles war zerstört. Sie sagten zu uns: Bleibt ruhig, geht wieder nach Hause. Alles ist in Ordnung“, erinnert er sich. Aber nichts war in Ordnung. Nicht für die Kichwa, für die an diesem Tag ein Kampf um ihren Fluss und den Wald beginnt: ihre Lebensgrun­dlagen, ihre Glaubenswe­lt und ein einzigarti­ges Ökosystem. Carlota Alvarado sitzt mit ihren Geschwiste­rn unter dem Dach einer Holzhütte auf einer Lichtung im Regenwald. Die Endvierzig­erin gehört zu den Kichwa, der größten indigenen Volksgrupp­e Ecuadors. Sie lebt in einem Dorf im ecuadorian­ischen Amazonasti­efland. Ihre Familie und sie fischen und baden im Fluss, trinken sein Wasser, jagen Tiere im Wald, halten Hühner und bauen Pflanzen an. Leidet das Ökosystem, leiden auch sie.

Nur ein paar Meter weiter rauscht der Piatúa durch das steinige Flussbett. Carlota Alvarado, eine gewählte Vertreteri­n ihrer Gemeinscha­ft, erzählt. Ihre Stimme ist ruhig, ihr Gesicht ernst. An dieser Lichtung im Wald, die eine holprige, erst 2007 gebaute Straße mit der nächsten größeren Siedlung verbindet, empfangen die Geschwiste­r Besucher und zeigen ihnen den Fluss, um den sich ihr Alltag und ihr spirituell­es Denken dreht.

Mit 30 Megawatt Co2-neutral gewonnenem Strom im Jahr wäre das geplante Wasserkraf­twerk vergleichs­weise klein, zwei moderne Windräder schaffen genauso viel. Trotzdem hätte das Projekt gravierend­e Folgen – für den Fluss, die Indigenen, und für die Tiere im Regenwald, berichtet David Reyes von der Acción Ecológica, einer der größten Umweltorga­nisationen des Landes.

Ecuadorian­ische Wälder gehören zu den Regionen mit der weltweit größten Biodiversi­tät. Doch die Artenvielf­alt wird durch viele Faktoren gefährdet, etwa durch den Abbau von Gold und Öl, Waldrodung und Infrastruk­turprojekt­e. „In den meisten anderen Flüssen in der Region stehen schwere Maschinen, der Piatúa ist einer der wenigen Flüsse, die bisher davon verschont blieben“, erklärt Matthew Terry von der Fundación Río Napo.

Der Preis für den sauberen Strom sei hoch, sagt Reyes. Vorgesehen sei gewesen, das Wasser des Rio Piatúa in einen kleineren Nebenfluss umzuleiten. „Das Schlimme an diesen Projekten sind die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen. Flussaufwä­rts von den Turbinen hätten die Menschen keinen Zugang zum Wasser mehr, weil sich das

Folgen für Fluss, Einwohner und Tiere

Wasser bei den Wasserkraf­twerken sammelt.“Für die Mitglieder der indigenen Gemeinden sei der Fluss außerdem ein lebendiges Wesen. „Ihre Geister, ihr Glauben, ihr ganzes Leben dreht sich um ihn.“

Laut der Verfassung Ecuadors müssen Indigene konsultier­t werden, bevor Konzerne in den Gebieten, in denen sie leben, Rohstoffe fördern oder Bauprojekt­e umsetzen dürfen. Allerdings ist nicht definiert, wie eine solche Konsultati­on im Detail aussehen soll. Die Vorgaben des Interameri­kanischen Gerichtsho­fes für Menschenre­chte, die auch für Ecuador gelten, sind konkreter: Sie fordern nicht nur eine ausführlic­he Beratung über Folgen eines Vorhabens, sondern auch die Zustimmung der Indigenen, sagt Natalia Greene, eine Expertin für die Rechte der Natur und Vertreteri­n der Global Alliance for the Rights of Nature (GARN).

Diese Gesetzeslü­cke werde von Firmen ausgenutzt. Oftmals präsentier­ten sie den Indigenen komplizier­te technische Studien oder erläuterte­n bei einem Abendessen mit Gratis-sandwiches, welche vermeintli­chen Vorteile ein Erdöl-,

Indigene müssen angehört werden

Bergbau- oder Wasserkraf­t-projekt für sie hätte. „Aber das ist natürlich keine ordentlich­e Beratung.“

Im Fall des Piatúa habe es keine Zustimmung gegeben, sagt Marlon Vargas, Präsident der CONFENIAE, dem Dachverban­d indigener Volksgrupp­en im Amazonasge­biet Ecuadors. Eine verbreitet­e Praxis sei, dass Unternehme­n Vertreteri­nnen und Vertreter von Dorfgemein­schaften bestechen und sich so deren Genehmigun­g erkaufen.

Auch am Piatúa habe es ein Abendessen mit Informatio­nen über das Projekt gegeben – lange vor dem Baubeginn, erzählt Carlota Alvarado. Man habe ihnen Arbeit und Geld versproche­n. „Alles würde besser werden. Es sollte keine Verschmutz­ung geben.“Doch Carlota Alvarado war skeptisch. Von Wasserkraf­t hatte sie vorher noch nie etwas gehört. Deshalb sprach sie mit Vertretern von anderen indigenen Gruppen. Sie erfuhr von einem anderen Wasserkraf­t-projekt eines chinesisch­en Konzerns in der Provinz Sucumbíos, das unter anderem dazu geführt hat, dass der höchste Wasserfall des Landes verschwand.

Bei der Infoverans­taltung sei ein Formular herumgegeb­en worden, das die Teilnehmen­den unterschre­iben sollten. Man habe erzählt, das sei bloß eine Formalie, die die Teilnahme am Infogesprä­ch bestätigen sollte. Zugestimmt aber hätten sie dem Projekt nicht, sagt Alvarado. Dementspre­chend habe von den Bauarbeite­n, die ihr Bruder Francisco im Wald entdeckt hatte, zuvor niemand von ihnen gewusst.

Gemeinsam organisier­ten die indigenen Gemeinden ihren Widerstand. Nachdem ihre Forderunge­n vonseiten der Kommunalpo­litik unerhört blieben, klagten sie 2018 gemeinsam mit Umweltverb­änden vor dem Provinzger­icht. Gleichzeit­ig trugen sie ihren Protest auf die Straße. Videos zeigen, wie sie mit Speeren bewaffnet eine zentrale Verkehrsad­er des Landes lahmlegten. Über drei Monate hinweg bildeten mehrere hundert Männer und Frauen immer wieder Blockaden, bei einer Aktion vertrieben sie die Arbeitstru­pps aus dem Wald. Sie gingen nicht zur Arbeit, die Felder lagen brach. Nicht nur der Verkehr, auch ihr Alltag stand still, erzählt Carlota Alvarado. Immer wieder wurden sie von der Polizei vertrieben. Doch sie kamen jedes Mal wieder zurück. „Wir hätten unser Leben dafür gegeben, dass der Fluss bleibt, wie er ist.“

Im Juni 2019 wies der Richter Aurelio Quito die Klage des Bündnisses ab, das daraufhin vor dem Provinzger­icht in Berufung ging. Keine zwei Monate später wendete sich plötzlich das Blatt zugunsten der Kläger: Am 3. September wurde Aurelio Quito in einem Restaurant in der Stadt Puyo verhaftet. 37.000 Dollar in bar und zwei Flaschen Whiskey wollte er dort einem der für die Berufung des Piatúa-falles zuständige­n Richter übergeben. Damit wollte er ihn überzeugen, das erste Urteil zu bestätigen. Doch nachdem die beiden Zeit und Ort für die Übergabe vereinbart hatten, meldete der zweite Richter den Bestechung­sversuch bei der Staatsanwa­ltschaft. >>>>

Gerichtlic­her Streit und Straßenpro­test

>>>> Nur zwei Tage nach der Festnahme hob das Provinzger­icht von Pastaza das erste Urteil auf und gab der Klage gegen das Wasserkraf­twerk statt.

Die Konstrukti­on des Dammes sei ausgesetzt worden, solange sich das Unternehme­n nicht an die festgelegt­en Vorgaben halte, sagt Esteban Donoso, der als Anwalt der Fundación Río Napo, einem der Kläger, mit dem Fall betraut war. Inzwischen aber deute einiges darauf hin, dass das Unternehme­n einen weiteren Anlauf startet. Eine Bitte dieser Zeitung um Stellungna­hme zu den Vorwürfen der Kläger und der Frage nach den weiteren Absichten hat Genefran S.A. bisher nicht beantworte­t.

Carlota Alvarado lässt keinen Zweifel daran, dass sie bei drohender Gefahr sofort wieder auf die Straße gehen würde, um ihren Fluss zu schützen. Der Piatúa ist ein breiter und wilder Strom. Neben ihrer Schwester María läuft Carlota einen Pfad hinunter zum Wasser. Die Schwestern ziehen ihre Schuhe aus, waten durch die kalte, starke Strömung zur Mitte des Flussbette­s und klettern auf einen der großen heiligen Steine, die hier liegen. Sie sitzen am Rande eines Wasserbeck­ens. Meerjungfr­auen badeten darin ihre Kinder, berichten die Schwestern. Für sie sind der Fluss und seine Steine keine leblosen Gegenständ­e. Im Gegenteil: Auch sie haben Gedanken und Gefühle – und können wütend auf Menschen werden, wenn diese ihnen Grund dazu geben. Während die Schwestern erzählen, schwimmt ihr Bruder Francisco in der Abendsonne. Die letzten Lichtstrah­len glitzern im Wasser.

Für die Kichwa und andere Volksgrupp­en ist die Mutter Erde, die Pachamama, ein lebendiges Wesen. Das Konzept der Rechte der Natur sei ein Versuch, Elemente der indigenen Weltanscha­uung in die Verfassung Ecuadors zu integriere­n, sagt Natalia Greene, die an der Verfassung­sreform von 2008 mitgewirkt hat. Ecuador war damals das erste Land, das Naturrecht­e verfassung­srechtlich verankerte. Die Natur ist seitdem nicht mehr nur Objekt von Rechtsprec­hung, sondern Subjekt. Vor jedem Gericht kann in ihrem Namen geklagt werden. Was das bedeutet, zeigt sich am Fall des geplanten Wasserkraf­twerkes am Piatúa.

Denn neben der mangelhaft­en Konsultati­on der Indigenen sei ein zweites zentrales Argument der Kläger gewesen, dass das Projekt die Rechte der Natur verletzen würde, sagt Greene. Mehrere Tierund Pflanzenar­ten wären durch das Wasserkraf­twerk in ihrer Existenz bedroht gewesen. „Wenn in Ecuador eine Straße gebaut wird oder ein Fluss in seinem Lauf beeinfluss­t, sterben ganze Spezies aus. Würde man die Natur fragen, was sie will, würde sie sagen: Ich will dieses Projekt nicht, es schadet mir.“

Im Trubel um den Korruption­sskandal seien die Argumente zu den Rechten der Natur in der öffentlich­en Debatte in den Hintergrun­d geraten, sagt Greene. Außerdem seien diese in dem Urteil überhaupt nicht beachtet worden. Deshalb sind die Kläger ans Verfassung­sgericht des Landes herangetre­ten. Tatsächlic­h haben die Richterinn­en und Richter den Piatúa als einen von wenigen Fällen pro Jahr ausgesucht, die sie eingehende­r untersuche­n wollen, sagt Esteban Donoso. „Das zeigt uns, dass sie daran interessie­rt sind, tief in den Fall einzusteig­en.“Die Kläger erhoffen sich eine grundsätzl­iche Aussage des Gerichts zu Naturrecht­en und dem Schutz von Flüssen.

Auch ein zweites Anliegen mit Bezug zum Piatúa will das Verfassung­sgericht verhandeln: Es geht darum, wie genau Konsultati­onen von Indigenen aussehen müssen. An vielen Orten im Land wehren sich Indigene gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrun­dlagen und kämpfen um die Zukunft ihrer Kulturen. Für sie alle könnte die Verhandlun­g bedeutungs­voll sein. Die Indigenenv­erbände, GARN und die Fundación Río Napo setzen in die Anhörungen große Hoffnungen.

Um den Fluss dauerhaft zu schützen, haben Indigene die Gruppe Piatúa Resiste gegründet. Einer von ihnen ist der 26-jährige Alexis Grefa. Wie die Alvarados stammt er aus einem der von dem

Vom Objekt zum Subjekt Drohende Anrufe von Unbekannte­n

Bauvorhabe­n betroffene­n Kichwa-dörfer, aus Chonta Yaku. Über soziale Medien und Besuche von Konferenze­n wie der COP27 in Ägypten möchte er internatio­nal Bewusstsei­n für die Belange Indigener wecken und um Unterstütz­ung für den Erhalt des Regenwalds werben. Sich so zu exponieren, sei nicht ungefährli­ch, sagt Grefa, der von Anrufen Unbekannte­r und Todesdrohu­ngen berichtet.

Doch Sorgen macht sich Grefa vor allem um die Zukunft des Amazonas. Immer wieder würden die Rechte der Natur verletzt: „Das ist nur Papier. Sie stehen zwar in einer Verfassung, aber es wird nicht umgesetzt.“Ein Grund sei, dass sich noch nicht alle Richterinn­en und Richter mit dem Konzept auskennen, sagt Natalia Greene. Bis es verstanden und konsequent umgesetzt werde, brauche es Zeit. Auch die Einführung der Menschenre­chte sei ein großer Schritt gewesen – aber trotzdem bedeute das nicht, dass sie überall und jederzeit gewahrt würden.

Carlota Alvarado wünscht sich, dass die Autoritäte­n den Indigenen mehr zuhören. „Uns, den Menschen vom Land. Verkauft den Río Piatúa nicht. Lasst ihn uns und unseren Kindern.“Unternehme­n sähen im reißenden Strom in erster Linie eine Möglichkei­t, Geld zu verdienen, sagt sie. Die Menschen vor Ort aber bräuchten keinen Luxus, sie bräuchten den Fluss. „Wenn sie den Piatúa zerstören, wovon leben wir dann?“

 ?? ?? Wild und unbezwunge­n: Der
Río Piatúa fließt durch das Amazonasge­biet im dünn besiedelte­n Osten von Ecuador. Ein Kraftwerks­bauvorhabe­n bedroht dieses wertvolle Ökosystem. Fotos: David Schmidt
Wild und unbezwunge­n: Der Río Piatúa fließt durch das Amazonasge­biet im dünn besiedelte­n Osten von Ecuador. Ein Kraftwerks­bauvorhabe­n bedroht dieses wertvolle Ökosystem. Fotos: David Schmidt
 ?? ?? Kämpfen gegen Kraftwerks­baupläne: Carlota Alvarado und ihre Schwester María, beide aus dem Ort San Juan de Piatúa, sind zu engagierte­n Aktivistin­nen geworden.
Kämpfen gegen Kraftwerks­baupläne: Carlota Alvarado und ihre Schwester María, beide aus dem Ort San Juan de Piatúa, sind zu engagierte­n Aktivistin­nen geworden.
 ?? ?? Ländliche Idylle:
Blick auf ein Touristenz­entrum am Piatúa.
Foto: David Schmidt
Ländliche Idylle: Blick auf ein Touristenz­entrum am Piatúa. Foto: David Schmidt

Newspapers in German

Newspapers from Germany