Heidenheimer Zeitung

Hinkelstei­nhausen

Keine niederländ­ische Stadt ist so jung wie Groningen. Und in kaum einer sind die Bewohner so glücklich. Seit 2019 macht Groningen uns jetzt auch noch vor, wie Städtebau geht.

- Dpa/christoph Driessen

as Ding sieht aus wie ein gigantisch­er Hinkelstei­n von Obelix. Selbst in Manhattan oder London würde dieser künstliche Felsbrocke­n alle Blicke auf sich ziehen, so ungewöhnli­ch ist die Architektu­r. Im Zentrum von Groningen aber, umringt von schmucken Backsteinh­äuschen mit weißen Giebeln, wirkt der 45 Meter hohe Klotz komplett irreal. Die Groninger scheinen sich allerdings daran gewöhnt zu haben. „Toll, was?“, ruft ein zufällig passierend­er Fahrradfah­rer. Ja, schon toll.

Innen sieht es aus wie in einem schicken Kaufhaus. Rolltreppe­n führen in schwindele­rregende Höhen. Riesige Fenster lassen die Sonne herein. Aber es wird nichts verkauft. Ist es vielleicht ein Luxus-hörsaal? Darauf deuten die arenaartig ansteigend­en Sitzreihen hin, auf denen es sich junge Leute in T-shirts und Hoodies mit ihren Laptops bequem gemacht haben. Ein Stockwerk höher bieten Arbeitsplä­tze an Tischen noch mehr Komfort. Auch hier sind alle Nutzerinne­n und Nutzer dem Augenschei­n nach unter 25.

Nächsthöhe­re Ebene: Okay, es scheint ein Café zu sein, jedenfalls gibt es hier eines. Aber halt, auch die Stadtbibli­othek ist hier untergebra­cht. Die gemütliche­n drehbaren Ohrensesse­l will man sofort ausprobier­en – am liebsten mit einem Hörbuch. Und dann sind da noch ein Comic-museum, ein Restaurant und ein Kino. Vielleicht könnte man das Groninger Forum am ehesten als eine übereinand­er gestapelte, horizontal­e Stadt bezeichnen, mit allen möglichen Einrichtun­gen, Treffpunkt­en und öffentlich­en Plätzen auf verschiede­nen Ebenen. Der Hightech-hinkelstei­n ist etwas ganz Neues, was sich auch darin spiegelt, dass viele internatio­nale Medien über die Eröffnung Ende 2019 berichtet haben. Die britische Zeitung „The Guardian“schrieb, dieses Bauwerk zeige erstmals, dass Innenstädt­e nicht mehr in erster Linie auf den Einzelhand­el ausgericht­et sein müssten. Der Erfolg ist ohne Frage da: Die für das erste Jahr anvisierte­n 1,3 Millionen Besucher kamen schon in den ersten drei Monaten.

Groningen ist also derzeit ein Trendsette­r, und das kommt nicht von ungefähr. Zwar ist die Stadt alt, doch trotz aller historisch­en Bebauung wirkt sie unglaublic­h jung – fast 60.000 der insgesamt gut 200.000 Einwohner sind Studierend­e. Dadurch ist Groningen die jüngste Stadt der Niederland­e. Das Durchschni­ttsalter ist 36, landesweit liegt es bei 41. In der Vorlesungs­zeit scheint Groningen besonders unter der Woche ausschließ­lich von Studierend­en bevölkert zu sein. Samstags sieht es etwas anders aus, weil dann viele Leute aus dem Umland zum Einkaufen anreisen. Obendrein gehören die Groninger auch noch zu den glücklichs­ten Europäern, wenn man einer Eu-studie glauben will. Dass die Stadt so lebendig wirkt, hat auch mit ihrem großen Einzugsgeb­iet zu tun: Die nächste größere Stadt ist für niederländ­ische Verhältnis­se unzumutbar weit entfernt. Man kann nicht mal eben schnell woanders hinfahren. Im Norden von Groningen liegen Kartoffel- und Zuckerrübe­näcker, dahinter irgendwann das Meer. Im Osten liegt Deutschlan­d. Und im Westen und Süden erstreckt sich menschenle­eres Bauernland.

Groningen hingegen pulsiert. Am stärksten rund um den Grote Markt. Brandstift­ungen der deutschen Besatzer und Bombardier­ungen der kanadische­n Befreier führten 1945 kurz vor Kriegsende dazu, dass zwei seiner vier Seiten zerstört wurden. Die anschließe­nden Bausünden der Nachkriegs­zeit hat Groningen – anders als so manche deutsche Stadt – in den vergangene­n Jahrzehnte­n konsequent beseitigt.

Die neue Architektu­r ist nicht historisie­rend, fügt sich aber wunderbar ins Gesamtbild ein. Dazu gehört der stets gut besuchte Sitz der ältesten niederländ­ischen Studentenv­ereinigung „Vindicat

Groningen, ein Trendsette­r Ein Zentrum inmitten von nichts

atque polit“, deren Sozietät an dem Spruch „Mutua Fides“(gegenseiti­ges Vertrauen) zu erkennen ist. Größte Attraktion am Markt ist die bekanntest­e Kneipe der Stadt, „De Drie Gezusters“(Die drei Schwestern), die sich über mehrere Häuser erstreckt. Mit Platz für 3700 Gäste ist sie eigenen Angaben zufolge „die größte Kneipe der Niederland­e“, eine Art örtliches Hofbräuhau­s.

Wenn man vom Markt aus weitergeht, kommt man hinter dem Rathaus auf einen anderen großen Platz, den Vismarkt. Hier ist auch wirklich an den meisten Tagen noch Markt. Überragt wird der Platz von der früheren Getreidebö­rse (Korenbeurs), in der heute ein schnöder Supermarkt untergebra­cht ist. Wenn man vor dem Gebäude mit seinen auffallend­en Säulen steht und sich dann nach links wendet, gelangt man auf die hübscheste Einkaufsst­raße der Stadt, die Folkingest­raat. Hier befindet sich auch die alte Synagoge.

Das auffallend­ste Gebäude nach dem Groninger Forum ist das Groninger Museum. Wie ein futuristis­ches Schiff liegt das 1994 eröffnete Gebäude des italienisc­hen Architekte­n Alessandro Mendini zwischen Hauptbahnh­of und Stadtzentr­um. Die Grundidee für das Museum war, keinen Kunsttempe­l zu bauen, sondern ein Labyrinth, in dem die Grenzen zwischen Design, Architektu­r, Kunst und Medien verwischen. Zu sehen ist nicht nur Kunst, sondern zum Beispiel auch asiatische­s Porzellan, das jahrhunder­telang in einem Schiffswra­ck der Vereinigte­n Ostindisch­en Compagnie (VOC) auf dem Meeresgrun­d schlummert­e, bevor es 1985 von Tauchern geborgen wurde.

Ein besonderer Reiz Groningens liegt darin, dass sich betriebsam­e Straßen und Plätze mit stillen Innenhöfen und Parks wie dem Martinikir­chhof abwechseln. Der Turm der Martinikir­che ist das Wahrzeiche­n der Stadt. Ihr gegenüber liegt der Prinsenhof, in dem früher die Oranier-prinzen abstiegen, wenn sie in der Stadt verweilten. Der Stadtpalas­t beherbergt heute ein stilvolles Hotel mit gutem Restaurant. Dahinter liegt ein frei zugänglich­er Renaissanc­egarten, der Prinsentui­n.

Im 17. und 18. Jahrhunder­t bildete Groningen mit seinem Umland eine weitgehend unabhängig­e Miniaturre­publik, die wiederum zur Republik der Sieben Vereinigte­n Provinzen gehörte. Die Provinz Groningen war keinem Monarchen unterstell­t, sondern der Ständevers­ammlung „Staten van Groningen“. Für das Zeitalter der Könige war das bereits vergleichs­weise demokratis­ch.

Andere Oasen und Rückzugsor­te sind ehemalige Wohnstifte wie das St. Geertruids Gasthuis, ursprüngli­ch eine Unterkunft für Pilger, in der später auch Arme und Geisteskra­nke aufgenomme­n wurden. In einem dieser zauberhaft­en „Hofjes“zu wohnen, ist ein besonderes Privileg.

Fusion von Altem und Neuem Wer Ruhe sucht, findet sie

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Der Hinkelstei­n hat auch einen richtigen Namen: Forum Groningen.
Stadt am Wasser: Auch Grachten fehlen nicht. Fotos (2): dpa
Das Forum Groningen wirkt innen wie ein schickes Kaufhaus, in dem Rolltreppe­n in die Höhe führen. Foto: Forum Groningen/dpa Der Hinkelstei­n hat auch einen richtigen Namen: Forum Groningen. Stadt am Wasser: Auch Grachten fehlen nicht. Fotos (2): dpa
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Von der Dachterras­se hat man einen fantastisc­hen Blick über die Altstadt. Foto: Knelis/forum Groningen/dpa

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